Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise
Der verstorbene Marquis de Solange war ein gern gesehener Gast bei Hofe, und deshalb gewährt mir der König dieses Privileg.«
Diese Tatsache beeindruckte Marie nicht wenig. In ihren kühnsten Träumen hatte sie erhofft, einmal einen Fuß in das Schloss setzen zu dürfen. Dass sie dort wohnen sollte, Tür an Tür mit Grafen und Baronen und Herzögen, überstieg alle ihre Erwartungen.
»Und da du meine Nichte bist, kannst du dieses Privileg ebenfalls genießen.«
»Mir fehlen die Worte, Madame la Marquise, wie kann ich Euch nur danken?«
»Indem du dich an alles erinnerst, was ich dir in den letzten Tagen versucht habe beizubringen. Versailles ist eine Bühne, du alleine bestimmst die Rolle, die du spielst.«
Das Schloss von Versailles, das Ludwig XIV. aus dem Jagdschlösschen seines Vaters durch zahllose Erweiterungen errichtet hatte, befand sich zwanzig Meilen außerhalb von Paris in einem sumpfigen Gelände, das die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für die Anlage einer königlichen Residenz samt einer umfangreichen Parkanlage bot. Aber der König hatte sich in das Tal von Galie verliebt, und folglich waren die Baumeister, Gartenarchitekten und Handwerker aufgerufen, alle Naturgesetze außer Kraft zu setzen, um den Wunsch ihres Herrschers Wirklichkeit werden zu lassen.
Weder Kosten noch Menschenleben wurden gescheut, um einen Palast zu errichten, der die Herrlichkeit von Louis Le Grand widerspiegelte. Ein Bauwerk, dazu bestimmt, Regenten und Gesandte aller Herren Länder in Ehrfurcht und Faszination vor der Größe des französischen Königs erstarren zu lassen - wie sollte sich ein junges Mädchen aus der Provinz diesem Zauber entziehen?
Als Marie hinter der Marquise die Kutsche verließ, war die Dunkelheit bereits angebrochen, und die Lichter in den Laternen und hinter den Fenstern verliehen der Kulisse etwas Unwirkliches. Zwei livrierte Lakaien kamen auf sie zu. Die Marquise zog eine in Gold gerahmte Karte aus ihrem Beutel und hielt sie ihnen entgegen, daraufhin verbeugten sie sich und schritten mit ihnen zum Eingang.
Marie konnte sich an dem Prunk im Foyer kaum sattsehen. Marmor, Gold und Spiegel, wohin das Auge fiel. Livrierte Diener eilten hin und her, und das Summen hunderter Stimmen lag in der Luft. Mit angehaltenem Atem folgte sie der Marquise die Treppen nach oben und fragte sich dabei, wie ihre Unterkunft wohl aussehen würde. Schon jetzt fühlte sie sich wie eine Prinzessin.
Zu ihrer Enttäuschung stellte sich das Appartement als winziger Raum unter dem Dach des OstFlügels heraus. Es gab zwei Stühle, einen Frisiertisch mit einem großen, stellenweise trüben Spiegel, ein abgewetztes Sofa und eine einfache Bettstatt. Florence hatte die Truhen bereits geöffnet und die Kleider ausgeschüttelt.
Die Marquise winkte sie zu sich, damit sie ihr aus dem Reisekleid half. »Ich mische mich unter die anderen Gäste. Das ist die beste Möglichkeit, herauszufinden, wer alles hier ist und welche Gerüchte der neueste Klatsch gerade verbreitet.«
Marie hatte sich vor den Frisiertisch gesetzt und nahm ihren Hut ab.
»Du bleibst hier. Morgen oder übermorgen, wenn mir der Zeitpunkt als günstig erscheint, werde ich dich präsentieren. Vorher verlässt du dieses Zimmer nicht. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Marie nickte. Die Aussicht, mehrere Tage in diesem ärmlichen Kabinett zu verbringen, ließ ihre Laune tief nach unten purzeln. Das hier war kaum besser als ihr Elternhaus in Trou-sur-Laynne. »Und was soll ich tun?«
»Warten.« Die Marquise bedeutete Florence, ihr beim Ausziehen zu helfen. »Du wirst sehr bald merken, dass du als Geliebte eines wichtigen Mannes die meiste Zeit deines Lebens mit Warten verbringen wirst.« Als sie Maries trotziges Gesicht im Spiegel sah, fügte sie hinzu. »Wäre es dir lieber, du würdest dir den Rücken krumm und bucklig auf den Feldern arbeiten?«
»Nein, Madame la Marquise«, antwortete Marie und senkte den Blick.
»Gut, dann freunde dich mit dem Gedanken an, in Zukunft die Hände in den Schoß zu legen und zu warten.«
Genau das tat Marie auch während der nächsten Tage. Dann eröffnete ihr die Marquise endlich, dass sie am folgenden Morgen beim lever des Königs anwesend sein würden. In weiterer Folge sollte sie einigen adeligen Herren vorgestellt werden, die sich nach junger weiblicher Gesellschaft sehnten.
Mit dem lever begann der bis ins kleinste Detail festgelegte Tagesablauf des Königs. Nachdem ihn sein Kammerdiener geweckt hatte,
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