Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise
begab. Sie versuchte, ihm beim Vorbeigehen ein kokettes Lächeln zuzuwerfen, doch er sah nicht in ihre Richtung. Enttäuscht sank sie auf ihren Stuhl. Auch die Beobachtung des Herzogs samt seiner mignons brachte keine neuen Erkenntnisse. Die Gruppe amüsierte sich ohne Zweifel - ganz im Gegenteil zu ihr selbst.
Als die Vorführung endlich zu Ende war, wurde zu einem opulenten Mahl geladen, zu dem nur Marie, nicht jedoch ihre Freundinnen Zutritt hatten. Nachdem sich häufig tausende Menschen in Versailles aufhielten, galt es als große Ehre, unter den wenigen zu sein, die überhaupt an einem Festessen teilnehmen durften, da war es grundsätzlich egal, wie weit entfernt man vom König an der Tafel saß. Marie hatte sich längst damit abgefunden, unter den hunderten Gästen ans entlegenste Ende des Tisches verbannt zu werden. Hauptsache, sie erhielt die Gelegenheit, dabei zu sein.
Sie hatte ihr Namenskärtchen bald gefunden, las aus Gewohnheit die Namen ihrer Nachbarn an der Tafel und setzte sich dann. Zu ihrer Rechten hatte man den Comte Vyridou platziert, zu ihrer Linken den Marquis Fouchet. Beides Greise, die kaum noch genug Zähne besaßen, um die Speisen ausreichend zu kauen. Marie seufzte. Wenigstens musste sie keine Konversation mit den beiden führen, und von Zudringlichkeiten würde sie ebenfalls verschont bleiben.
Etwas Weiches streifte ihre Schulter und riss sie unvermittelt aus ihren Gedanken. »Welch Vergnügen, die schlagkräftige Schöne an der königlichen Tafel anzutreffen«, flüsterte eine raue Stimme an ihrem Ohr.
Marie zuckte zusammen. Der Duft nach Veilchen verursachte ihr ebensolche Übelkeit wie die schweren, dunklen Haare seiner Perücke auf ihrer Schulter. Sie wollte sich nicht umdrehen. Sie wollte ihn nicht ansehen. Sie wollte nicht mit ihm sprechen. Wie konnte er die Impertinenz besitzen, sich ihr hier, in aller Öffentlichkeit, zu nähern?
Sie blieb stocksteif, mit geradem Rücken sitzen und tat, als hätte sie ihn nicht gehört. Das schwarze Haar glitt von ihrer Schulter, als sich die Schritte hinter ihrem Stuhl entfernten. Erleichtert schickte Marie ein Dankgebet gen Himmel. Doch ihre Erleichterung löste sich in nichts auf, als sie merkte, dass er nach der Namenskarte des abwesenden Comte Vyridou griff und damit die Tafel abschritt. Wenig später kam er zurück, stellte ein anderes Namenskärtchen auf den Platz und setzte sich neben sie.
Sie konnte es nicht fassen. Vergeblich hoffte sie, dass einem Zeremonienmeister sein unglaubliches Verhalten aufgefallen war. Indes schienen alle mit anderen Aufgaben beschäftigt. Um ihn mit Nichtachtung zu strafen, blickte sie demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung.
»Die Aufführung war etwas langatmig nach meinem Geschmack«, erklang die verhasste Stimme aufs Neue dicht neben ihr. »Ihr fehlte die gewisse Würze, freilich, was will man erwarten, wenn ein Haufen degenerierter Höflinge sich nicht nur als Komödianten, sondern auch als Schreiber versucht. Ich bin sicher, wenn man Euch bei manchen Szenen zu Rate gezogen hätte, treffsichere Schönheit, hätte das Spiel mehr Pfeffer bekommen.«
Ohne ihren Kopf zu wenden, entgegnete Marie: »Euer Geschmack, Chevalier de Rossac, wird hier in Versailles ganz bestimmt keine Maßstäbe setzen.«
»Ach, Ihr habt Euch nach meinem Namen erkundigt, schönes Kind. Nun, das schmeichelt mir ganz ungemein. Ich darf also davon ausgehen, dass unsere Begegnung nicht völlig ... unbefriedigend für Euch verlaufen ist.«
Ihr Kopf flog herum. Wie konnte er es wagen ... Wie konnte er ... Blind für das Lachen, das in seinen Augen stand, fuhr sie ihn an: »Ich weiß nicht, von welcher Begegnung Ihr sprecht, Monsieur. Und Euren Namen kenne ich bloß aus einem Grund - die Spatzen hier pfeifen ihn von allen Dächern. Ihr seid der Günstling des Herzogs von Mariasse, die willige Marionette für seine unnatürlichen Vorlieben, solange er seinen Geldbeutel weit genug öffnet.«
Das Lachen verschwand aus seinen Augen, und ein harter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Nun, dann haben wir ja mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint ...« Er griff nach ihrem Namenskärtchen. »... Mademoiselle Callière. Auch von Euch habe ich gehört, dass Ihr alle Wünsche Eures Herrn erfüllt, damit Ihr in Versailles wie die Made im Speck leben könnt.«
Maries Wut ließ sie jede Vernunft vergessen. »Ich bin ein geschätztes Mitglied des Hofes. Mein Herz gehört dem König, der mich achtet und respektiert und
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