Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise
bereits nach Jacques gesucht. Allerdings ohne eine Spur von ihm zu entdecken. Seufzend blickte sie sich um. Womöglich war er einen Baum hinaufgeklettert, um das Feuerwerk besser zu sehen.
Sie raffte ihre Röcke und stieg den mit Kies bestreuten Pfad zum Diana-Pavillon hinauf. Als Kind hatte sie hier viel Zeit verbracht, wenn sie Sorgen plagten, und noch heute war es ein magischer Ort für sie, der ihr Ruhe und Zuversicht brachte.
Da sie die Augen auf den Weg gerichtet hielt, merkte sie viel zu spät, dass sich ein Pärchen auf den Stufen des Pavillons amourösen Spielen hingab. Sie unterdrückte ein Lächeln und wandte sich ab.
Da zerriss der Schrei der Frau die Nacht.
Ghislaine erstarrte, als sie den Namen hörte und begriff, wer nur wenige Meter von ihr entfernt zugange war. Sie hatte die beiden während des Dînés beobachtet, und die Gewissheit, dass sie Tris für immer verloren hatte, bohrte sich wie ein Dolch in ihr Herz. Sie war sich immer darüber im Klaren gewesen, dass ihre Beziehung keinen Bestand haben konnte. Aber als es so weit war, als sie ihn tatsächlich gehen lassen musste, um ihre Selbstachtung nicht völlig zu verlieren, hatte der Schmerz alle ihre Erwartungen überstiegen.
Die Verbundenheit zwischen Tris und seiner Frau war unübersehbar. Dieses junge, ungestüme Mädchen bekam alles, wovon sie immer geträumt hatte: einen Mann, der sie liebte; einen geachteten Platz in der Gesellschaft; die Möglichkeit, ihr Leben so zu leben, wie sie wollte. Und jetzt hatte Marie ihr auch noch ihre letzte geheime Zufluchtsstätte genommen.
Ghislaine presste die Fingernägel in ihre Handflächen und hastete den Weg zurück, den sie gekommen war. Tränen brannten in ihren Augen. Vielleicht brach sich Jacques bei seinem nächtlichen Abenteuer das Genick. Vielleicht fiel er in einen der Teiche und ertrank. Dann wäre sie frei ... frei ... so wie Henri immer sagte.
Jacques' große blaue Augen tauchten vor ihr auf. Voller Vertrauen und Liebe. Er hielt ihr einen Strauß selbstgepflückter Wiesenblumen entgegen und drückte ihr einen Schmatz auf die Wange. Sein Gesicht strahlte vor Freude, als er die Namen der Blumen aufsagte.
Sie wischte mit der Hand die Tränen und die Vision weg. Niemals konnte sie auf seinem gewaltsamen Tod ihr eigenes Leben aufbauen. Niemals konnte sie ihm wissentlich etwas antun. Alleine, dass sie daran gedacht hatte, verursachte ihr Übelkeit. Sie sank auf eine Steinbank und versuchte, sich zu beruhigen. Jacques würde nichts zustoßen, vermutlich hatte ihn Richard längst gefunden und auf sein Zimmer gebracht. Ihr Mann besaß den Schutzengel, der über alle Kinder und Schwachsinnigen wachte.
Über ihr explodierten die letzten Feuerwerkskörper. Sie blickte die fallenden Sternschnuppen an und wünschte, dass sich all ihre Sorgen ebenso in Luft auflösten. In Gedanken versunken blieb sie sitzen, obwohl das Feuerwerk längst vorbei war und die Fackeln im Park nacheinander erloschen.
»So alleine in dieser zauberhaften Nacht?«
Ghislaine fuhr herum. Der Comte de Saint-Croix stand hinter ihr. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber der Satz genügte, um sie eine unmittelbare Bedrohung spüren zu lassen.
»Ich bin auf dem Weg zu meinen Gemächern und wollte nur kurz den Anblick des Feuerwerks genießen. Jetzt muss ich gehen, man erwartet mich.« Sie stand auf, bezähmte ihren Wunsch, einfach wegzulaufen, sondern schritt hoheitsvoll auf das Haus zu.
»Wer erwartet Euch denn, Comtesse? Der schwachsinnige crétin etwa?« Der Comte vertrat ihr den Weg.
Sie wollte ausweichen, aber er machte einen weiteren Schritt auf sie zu und trieb sie damit völlig in die Enge. Ihr Rücken schrammte über den Sockel einer Statue, und der Comte stützte die Arme links und rechts ihres Kopfes auf. Jetzt konnte sie das verächtliche Lächeln auf seinem Gesicht sehen.
»Lasst ihn doch warten, den crétin, vielleicht spielt er mit seinen Holzsoldaten. Ich biete Euch eine ganz andere Art von Amüsement. Eine, die einer Frau mit Charme und Schönheit würdig ist.« Er beugte sich vor und küsste ihre Augenbraue. Sein Mund wanderte zu ihrem Ohr. »Wisst Ihr überhaupt noch, wie es ist, mit einem Mann zu liegen? Mit einem richtigen Mann, der sich auf die Kunst der Liebe versteht?«
Ghislaine stand wie erstarrt. Sie konnte nicht glauben, dass der Comte sich tatsächlich erdreistete, sie nicht nur mit Worten zu belästigen, sondern sie auch noch berührte. Mit einer Heftigkeit, die sie selbst
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