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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hüpfen, – der Hund verschaffte ihm eine Entschuldigung für sein Benehmen –, und es fiel ihm überraschend leicht. Beim Hüpfen schien ihm sein Bein keine Last mehr zu sein. »Es liegt wieder in der Luft«, sagte er und deutete nach oben. »Riech nur, es wird geschehen, wir können erneut an die Arbeit, in Kürze werden die Kulissen weggezogen, und wir können wieder tun, worauf es wirklich ankommt. Dann können wir endlich zu Ende führen, was wir damals begonnen haben.«
    In dem Moment ertönte der zweite Schrei des Tages. Nicht nur ein Schrei, es war mehr als das, eine Salve verunsicherter Ohs und Ahs entwich Lenis Kehle, die über das Feld angetrabt kam, schwankend, als hinke auch sie, als wäre Hinken auf Raeren zu etwas Ansteckendem geworden.
    »Ach du liebe Zeit«, keuchte sie, als sie vor uns stand, »so was aber auch! Heinzis Fuß, was jetzt, Heinzis Fuß! Wer bringt mich jetzt zum Markt?« Alles an ihr war in Bewegung, Bauch, Wangen, Kopf und Hände, während sie »Heinzis Fuß!« rief. Sie konnte es nicht fassen, daß dieser schmuddelige Teil ihres Mannes sich auf einmal als Fundament ihrer Haushaltsführung entpuppte.
    »Das machen wir zusammen«, sagte Egon ruhig. »Zusammen mit dem Auto, wie in der guten alten Zeit, weißtdu noch? Und Janna kommt mit, wir müssen nämlich ein Telegramm aufgeben.«
     
    Eine halbe Stunde später saßen wir zu dritt im Auto, unterwegs zu einem Ort, der nicht zu Raeren gehörte, aber auch nicht zu meinen Plänen. Die Straße ins Dorf war übersät mit abgestorbenen Ästen, Egon umfuhr sie brüsk. Er hatte das Verdeck nicht geschlossen, alles mögliche blieb uns im Gesicht hängen, Stücke des Waldes, den wir hinter uns ließen. Ich schaute nach oben, zum stürmischen Leben rüttelnder Vögel und trudelnder Blätter, bis Strommasten auftauchten und Telefondrähte.
    Den Namen des Dorfs vergaß ich sofort, wie es einem auch passiert, wenn man einer Person mit einem auffälligen Gesicht die Hand schüttelt. Ich erschrak über die Farben. Die Fassaden sahen aus wie Zuckermandeln, pastellblau, violett, zitronengelb, wir bogen um die Ecke und mußten vor dem Markt bremsen, den rotweiß gestreiften Markisen, und begaben uns unter die Menschen mit ihren grasgrünen, bordeauxroten Jägerhüten, bunten Federn, Ansteckblumen, schweren Jutebeuteln, ihren sonnengebräunten Nasen, geröteten Wangen, geschminkten Lippen, Nägeln, Zähnen, laut lachend, zwinkernd, schreiend, johlend, entzückt über ihr Leben, das alles mögliche für sie bereithielt. Wir verloren Leni, doch darüber machte Egon sich keine Sorgen. Er suchte ein Mäuerchen und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Ich würde diesen Mann nicht bereuen. Er war es wert, daß ich mich an ihn erinnerte, seine treffsicheren Finger, vor allem aber seine hochmütigen Lippen würde ich mir immer vergegenwärtigen können, die Tatsache, daß er so verdammt gleichgültig in die Ferne blickte, wenn er ein Streichholzanstrich, weil ihm solche Dinge, auch ohne hinzuschauen, gelangen. Sein warmer, pochender Hals.
    Die anderen Gesichter auf der Straße sahen alle merkwürdig aus, so ganz anders als Egons oder meins, und sogar Leni war ein anderes Tier als sie. Ich verstand ihre Sprache nicht. Was diese Menschen von sich gaben, hatte keine Ähnlichkeit mit dem, was ich auf Raeren verstehen konnte, es klang sehr aufgepeitscht. In einer Bude stand ein Schlachter, den man selbst sofort auf den Spieß stecken konnte, so satt sah er aus, prall gestopft wie seine Würste, außerdem völlig kahl; er hatte nicht einmal Augenbrauen. Er bediente eine Frau, die ihren Kinderwagen volllud, statt eines Kindes lag ein Fäßchen Honig darin. Jeder schien jeden zu kennen. Die Frau mit dem Kinderwagen wurde von einer Tante umarmt, sie lachten sich gegenseitig ins Ohr, ich schaute noch einmal genauer hin und sah, daß es Leni war. Sie nickte uns zu, offenbar hatte Egon ihr ein Zeichen gegeben. Ich folgte ihm ins Postamt.
    Da waren sie wieder, die Hakenkreuze.
    Ich mußte daran denken, was der Otter über den Archäologen erzählt hatte, der das fatale Symbol ausgegraben hatte. Hier suchte sich das Fußvolk alles für sein leibliches Wohl zusammen, während über seinen Köpfen der Fluch Agamemnons flatterte. Ich stellte mir vor, die lebhafte Geschäftigkeit sei ein Rauschen, wie man es in einem Meeresstrudel hört oder in den Windungen einer Muschel, und daß diese Menschen mitsamt ihren Einkäufen in die Tiefe gesogen würden. Sie konnten

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