Die Nirgendwojagd
grübelte darüber nach, was das Netz in dieser Jahreszeit wohl bringen würde. Zusammen mit Gawer Hith konnten sie und Rihon die Amar sicher bei Verstand halten, solange Mambila den Himmel beherrschte. Obwohl das Gespinst an ihrem Verstand kitzelte, war es für sie nicht aufregender als das Drogenmark, das sie ständig kaute, doch für die anderen war die Zeit unter dem Mambila-Netz stets eine Zeit des Wahnsinns, des stillen oder des lautstarken Wahnsinns. Die Fieyl und Zalish, die Tandir und Dangal, alle Stämme der Rum, hatten viele Leute an den Mambila-Wahnsinn verloren. Doch die Amar hatten die Zwillinge. Die Heiligen Zwillinge, die all den Wahnsinn zu absorbieren schie nen. Sie blickte zu den Fetzen des Mambila-Netzes empor, die in den Taghimmel vordrangen.
Bald würde es sich über den ganzen Himmel erstrecken, Tag und Nacht. Fünfzehn Jahre, dachte sie. Fünfzehn Netze lang sind wir das Glück der Amar gewesen. Sie tippte ihrem Bruder auf die Schulter.
Als er aufblickte, sagte sie: „Schau nach, ob wir noch etwas anderes mitnehmen sollten. Mir fällt nichts mehr ein.”
Er zuckte mit den Schultern. „Warum sollen wir überhaupt etwas mitnehmen?”
„Das hier ist anders, Zwilling.”
Rihon stand zögernd auf und tauchte gebückt durch die Türöffnung. Roha saß auf der Plattform, ließ die Füße baumeln, während sie zusah, wie sich die Männer vor dem Geisterhaus einfanden und sich um Churr versammelten.
Sie beobachtete noch immer, als Rihon heraustrat und ein ordentlich zusammengerolltes Bündel auf ihren Schoß fallen ließ „Gut genug”, meinte er. „Beutel für Essen?”
„Ja.” Sie strich mit einer Hand über das Leder, ein wenig über rascht zu sehen, daß es vibrierte. Rihon kniete neben sie, packte ihre Schultern. Sie lehnte den Kopf an seinen Arm und machte einen langen, zittrigen Atemzug.
Churr ließ die zwanzig Männer beim Geisterhaus zurück und marschierte über den Platz auf sie zu. An der Leiter blieb er stehen und sah hoch. „Es ist Zeit.” Sein Blick wanderte zur Sonne, die gerade über die Bäume emporstieg, und kehrte zu Roha zurück. „Wohin, Zwilling?”
„An der Mauer der Nafa vorbei”, platzte Roha heraus. „Von der Heimstatt der Nafa geradewegs weiter ins Nebelland.”
Churr sagte: „Holt euch Wegzehrung aus dem Geisterhaus.”
Amar-Kinder stürmten hinter ihnen her, balgten sich in Schaukämpfen, jauchzten, tanzten, kicherten, bis zur Fassungslosigkeit erregt. Beim ersten Gartenflecken drehte sich Churr zu ihnen um und fauchte seinen Ärger heraus, was sie schreiend ins Dorf zurückrasen ließ. Auf der unregelmäßig kreisförmigen Lichtung ruhten Frauen und Mädchen auf ihre Steinhacken gestützt aus, beobachteten, wie sie vorbeizogen, riefen ihnen Ermutigungen zu. Sie kamen an den Rand der Lichtung und spähten dem Überfalltrupp hinterher, bis er unter den Bäumen außer Sicht verschwunden war.
Als Roha aus den Baumschatten trat, blickte sie nach links. Die Nafa saß auf ihrer Mauer und ließ ihre langen Beine herunterbaumeln. Der Stoff, in dem sie sich heute gehüllt hatte, war rot mit einem breiten Goldrand, der das Sonnenlicht einfing und glitzerte und flirrende Helligkeit in Rohas Augen strahlte. Sie blickte weg, da ihr die Dinge nicht gefielen, die sie im Gesicht der Frau zu sehen glaubte.
Am Rand des Abhangs hielt sie an. Churr blickte finster drein. Mit einem ungeduldigen Rucken seiner Hand drängte er sie weiter. Als sie sich nicht bewegte, stapfte er an ihr vorbei und suchte sich einen Weg den sanft geneigten Abhang hinunter selbst. Roha starrte die Ausläufer des Nebels an. Fühlte, wie die Nebelfinger ihr Gesicht berührten, sich um ihre Knöchel ringelten, sich um ihren Körper wanden, ihr zuwinkten, ihr durch die Poren ihrer Haut hindurch zuflüsterten. Sie war starr vor Entsetzen. Sie konnte den ersten Schritt nach unten nicht tun. Sie schloß die Augen und stand zitternd da. Sie hatte Angst. Sie konnte sich nicht bewegen.
Rihon kam zu ihr, zog ihren Rücken gegen seine Brust, hielt sie, bis seine Körperwärme die Kälte aus ihr vertrieb. Er war ihr Anker, er festigte sie. Als ihr Zittern verebbte, nahm er ihre Hand und führte sie den Abhang hinunter in das Nebelland.
Roha
4
Roha kratzte langsam an ihrem Arm. Der Nebel wallte rings um den steinigen freien Platz des Lagerbereichs, dick und dünn wie Rauch, sich verändernd, bis sie Tiere und Dämonen in der ununterbrochen wirbelnden Masse entstehen und vergehen sah. Sie war müde.
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