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Die Nirgendwojagd

Die Nirgendwojagd

Titel: Die Nirgendwojagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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den anderen, hockenden, zitternden, ließen sie zurück. Er griff nach der Röhre.
    Churr pfiff. Die Amar, die noch laufen oder kriechen konnten, zogen sich hastig in die Nebelwand und außer Sicht zwischen die Büsche zurück. Einen Moment lang geisterte der Feuerstrom hinter ihnen her, dann war er verschwunden. In panischer Flucht, voller Elend und hysterisch, stürmte auch Roha davon, und sie sah die schwarzen und die weißen Muster wieder vor sich, und sie rannte, ohne darauf zu achten, wohin sie die Füße setzte, rannte, floh von der Lichtung.
    Rihon holte sie ein, umarmte und hielt sie, und sie wehrte sich und schrie, und Schaum sammelte sich auf ihren Lippen. Als sie ein wenig ruhiger wurde, führte er sie an eine Quelle und drängte sie neben dem heißen, klaren Wasser nieder. Die feuchte Hitze sickerte in sie hinein, entspannte sie, laugte die Erregung aus, weichte sie in Kummer auf.
    Sie begann leise zu weinen, betrauerte die Toten und Sterbenden.
    Churr kam zu ihnen. „Zwillinge, die Toten erwarten euch. Und die Sterbenden.”
    Roha schaute zu ihm auf. Sie schloß die Augen, streckte blind die Hand aus. Rihon ergriff sie, hielt sie fest in seiner. „Wir müssen dies tun, Zwilling.” Er umarmte sie. „Wir müssen.”
    „Ja.” Sie öffnete die Augen, streckte Churr die Hand entgegen. Er zog sie auf die Füße, nahm das Steinmesser aus der Schlaufe an ihrer Seite und hielt es ihr hin. Roha umfaßte den Griff. Dies war ihre Aufgabe, dies war etwas, das sie ihrem Volk schuldete. Feierlich hob sie das Messer, berührte die Klinge mit den Lippen. Sie hatte diese Gnade schon früher erwiesen. Hatte sie in jedem Krieg erwiesen, seit sie alt genug war, ohne Hilfe zu laufen.
    Sie ging zu der Stelle, an der die Toten und Verwundeten auf sie warteten, und Rihon folgte ihr, seine Hand auf ihrer Schulter. Jene, die in einem Dunst des Schmerzes gefangen waren, lagen sich windend auf der Erde, stöhnten, schrien. Einer brüllte wiederholt auf, nicht laut, jedoch unaufhörlich. Der Klang brach durch ihre schwer erlangte Ruhe. Sie zitterte und hätte das Messer beinahe fallen lassen.
    Rihons Finger zogen sich auf ihrer Schulter zusammen, und Kraft floß von ihm auf sie über. Sie machte einen tiefen Atemzug und kniete neben dem jammernden Mann nieder, angeekelt vom Gestank verkohlten Fleisches. Sein Gesicht war schrecklich verbrannt, so daß der weiße Backenknochen durchschimmerte. Sie breitete ihre Hand direkt über seinem Herzen aus, wegen der Verbrennungen dort jedoch nicht in der Lage, ihn zu berühren. Rihon ließ sich neben sie fallen und schmiegte seine Finger um ihre Hand, die den Messergriff hielt.
    Roha sprach die Worte: „Heller Zwilling, Dunkler Zwilling, Erde empfanget!”, und ihr Bruder wiederholte sie. Schnell zog sie die Klinge über die Kehle des leidenden Mannes, dann lehnte sie sich zurück, um dem kurzen Blutschwall auszuweichen.
    Sie zogen weiter und knieten neben jedem der anderen sterbenden Amar nieder, schenkten ihnen ein schnelles Ende des Schmerzes und sandten die Amar-Seelen in den Mutterleib des Dunklen Zwilling zurück, auf daß ihre Wiedergeburt möglich werde.
    Fünf des Überfalltrupps waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, doch auch ihre Körper hatte man unter einigem Risiko aus der Lichtung fortgeschleppt. Sechs Männer starben unter dem Gnadenmesser, vier hatten vereinzelte Verbrennungen und zwei weitere von Dämonenhieben gebrochene Knochen. Roha berührte die Lebenden, zog ihren Schmerz in sich selbst hinein, dann entfernte sie sich von ihnen und ging zu dem sprudelnden Teich zurück. Sie setzte sich auf die warme Erde und ließ diese Wärme den Schmerz aus sich heraussaugen.
    Rihon kam leise zu ihr und setzte sich neben sie, um mit ihr in das sprudelnde Wasser zu starren und zuzusehen, wie die Dampfii-nien von der Oberfläche aus emportanzten. Roha streckte die Hand aus.
    Rihon schloß seine Finger darum. Schweigend saßen sie da und lie
    ßen den Schrecken dieses Tages von sich abgleiten. Hinter ihnen waren weiterhin die Geräusche des Grabens zu hören.
    Roha
    6
    Roha lag neben Churr hinter einem dünnen Schutzschirm aus struppigem Gebüsch und beobachtete das verbarrikadierte Loch in der Seite des Eies — der Nebel kreiste träge über ihnen. Churrs Gesicht war in grimmigen Furchen verzerrt, die Narbe, die aus seinem Augenwinkel bis zum Rand seines Nasenloches verlief, pulsierte blaß und dunkel.
    Roha zappelte unbehaglich in der leichten Mulde herum, die ihr Körper in

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