Die Noete des wahren Polizisten
nicht mitbekommt (von denen er nicht einmal ahnt, wie sie anfangen) und die regelmäßig nach zwei Seiten unterbrochen werden. Der gewiefte Leser vermag indes Hinweise zu entdecken, die manchmal den Beginn eines Dialogs erhellen, seine Motive, die Gründe, die ihn veranlasst haben. Obwohl die meisten, zumindest dem Anschein nach, der Monotonie der Reise entspringen, sind einige doch besonderen Ursprungs: eine Bemerkung über den Kriminalroman, den einer der Mitreisenden liest, ein politisches oder gesellschaftliches Ereignis, eine dritte Person, die beider Aufmerksamkeit geweckt hat. Jeder Dialog trägt einen kleinen Titel, der uns manchmal über den Beruf der Gesprächspartner oder ihren Zivilstand oder das Fahrtziel des Zuges oder die Jahreszahl oder das Alter der Reisenden informiert, aber nicht immer, einige Kapitel beginnen sogar mit einer knappen Zeitangabe: drei Uhr morgens, neun Uhr morgens, elf Uhr nachts etc. Außerdem begreift der gewiefte Leser bald (obwohl es dafür häufig einer zweiten oder dritten Lektüre bedarf), dass es sich nicht um einen Erzählungsband oder ein Buch aus neunundneunzig Fragmenten handelt, deren einzige Verbindung die Zugfahrt ist: Als würde es sich um einen Krimi handeln, lassen uns die Dialogfragmente zumindest zwei Reisende wiedererkennen, zwei schillernde Figuren, die, obwohl sie Arbeit, Alter und zuweilen sogar das Geschlecht wechseln (aber dann ist das Fräulein, das in der Verwaltung einer Schokoladenfabrik im Jura arbeitet, kein solches Fräulein), immer die gleiche Person sind, und beide fliehen oder verfolgen einander, oder nur der eine verfolgt und der andere versteckt sich. Auch lassen sich die Schlüssel zur Aufklärung eines Verbrechens entdecken, obwohl die Reihenfolge, in der uns das Buch die Dialoge präsentiert, eher zur Verschleierung beiträgt (Dialog zwischen dem Präfekten von Narbonne und dem türkischen Intellektuellen, Seite 161; Dialog zwischen dem Soldaten auf Fronturlaub und der geheimnisvollen Frau, Seite 163; Dialog zwischen dem Zugschaffner und dem Seemann aus Toulon, Seite 95; Dialog zwischen dem Korrekturleser, dessen Mutter gestorben ist, und dem Architekten der Stadtverwaltung von Brest, Seite 51; Dialog zwischen dem italienischen Einwanderer und dem Uhrmacher aus Genf, Seite 87; Dialog zwischen der fünfzigjährigen Nutte und ihrer zwanzigjährigen Kollegin, Seite 115); es ist auch möglich, eine komische Geschichte zu konstruieren (Dialog zwischen der Braut und dem Bräutigam, die in die Flitterwochen aufbrechen, Seite 27; Dialog zwischen dem Rentner und der Weinbergsbesitzerin aus dem Roussillon, Seite 77; Dialog zwischen dem Varieté-Künstler und dem Straßenbauingenieur oder deutschen Spion oder Straßburger Bohemien, Seite 109); eine Geschichte von Treue (Dialog zwischen dem alten Bäcker und dem alten Landarzt, Seite 153; Dialog zwischen dem Soldaten auf Fronturlaub und der geheimnisvollen Frau, Seite 163; Dialog zwischen dem Stotterer aus Lille und dem Taxifahrer aus Paris, Seite 171); die Geschichte einer Reise – nach Spanien?, in den Maghreb? –, die mit dem Tod des Reisenden endet (Dialog zwischen dem Mediävistik-Professor und dem Handlungsreisenden, Seite 143; Dialog zwischen der geheimnisvollen und der verheirateten Frau, Seite 69; Dialog zwischen dem zwanzigjährigen Sportler und der achtundzwanzigjährigen Akademikerin, Seite 181; Dialog zwischen der Bridgespielerin und der Engländerin unbestimmbaren Alters, Seite 197), und die Geschichte eines in Brand gesteckten Hauses (Dialog zwischen dem Totengräber aus dem Süden und dem Totengräber aus dem Norden, Seite 39; Dialog zwischen der Hausfrau, die liebend gern Gedichte schreibt, aber keine liest, und dem Korrekturleser, dessen Mutter gestorben ist, Seite 119; Dialog zwischen dem Mann, der sonst nie Bahn fuhr, und dem Alten, der ein Einzelkind war, Seite 191). Aber die eigentlich wichtige Geschichte, die in gewisser Weise alle anderen enthält, auslöscht und ersetzt, ist die Geschichte einer Verfolgung. Den Leser stellen sich eingangs mehrere Fragen: Handelt der Verfolger aus Liebe oder Hass?, handelt der Fliehende aus Liebe oder Hass?, wie viel Zeit vergeht vom Beginn der Verfolgung bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt?, setzt sich die Verfolgung über das Ende des Buches hinaus fort oder wurde sie irgendwann zwischen 1899 und 1957 unbemerkt eingestellt?, ist der Verfolger ein Mann und der Fliehende eine Frau oder umgekehrt?, was ist die Geschichte und was sind Auswüchse,
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