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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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denkt man automatisch an ein Plagiat oder bestenfalls an eine Bearbeitung des Thrillers Keine Orchideen für Mrs. Blandish von James Hadley Chase. Die ermüdende Beschreibung von Gegenständen (Himmelbetten, Feldbetten, Waffen, Sesseln, Keksdosen, Tellern), ganz im Stil des Nouveau Roman, ändert nichts daran, dass sich die Hauptstränge von James Hadley Chases Erzählung mit souveräner Kraft durchsetzen: Ein paar zweitklassige Halunken entführen die Tochter eines Magnaten, Stümper, die sie sind, verlieren sie ihre Beute bald an eine andere Bande, Kopf der Bande ist eine dicke, übellaunige Frau (Mona), deren Stellvertreter sind ihr Sohn (Chuck) und ihr Patensohn (Jim, den man auch Kansas Jim nennt). In dieser Nacht, der Nacht der doppelten Entführung, wird dem Leser klar, dass Chuck ein gefährlicher Psychopath ist und es nicht lange dauern wird, bis er sich auf die schöne Erbin kapriziert, und dass Jim hübsch und clever ist und das Mädchen abgrundtief verachtet: Seine wortreich dargetanen Gründe pendeln zwischen einer sehr eigensinnigen Auffassung von Klassenkampf und der natürlichen Kameradschaft der Revuegirls, die er eindeutig bevorzugt.
    Die übrige Bande besteht aus vier finsteren, blutrünstigen Individuen: einem Neger, zwei ehemaligen Farmern und einem fünfundfünfzigjährigen polnischen Tänzer. Die Alltäglichkeit dieser Figuren scheint es Arcimboldi mächtig angetan zu haben: ihr Tagesablauf, ihre Verschläge, ihre Hobbys, ihre fixen Ideen, ihre Geschmeidigkeit, »durch die Ritzen der Zeit zu schlüpfen«. So lernen wir bald die kulinarischen Vorlieben der Entführer kennen, ihre Träume, ihre häufigsten Gesprächsthemen, ihre Hoffnungen, ihre schwarzen Lieben und ihr schwarzes Glück (vgl. Victor Hugo, Die Elenden ). Chuck und die Entführte wirken wie ein infernalischer Romeo-und-Julia-Verschnitt, Mona und der Pole (die einmal alle vierzehn Tage fast ohne Berührung miteinander schlafen, indem sie sich, jeder auf einer Seite des Bettes, mit Händen, die wie Insektenfühler beschrieben sind, gegenseitig masturbieren) wie ihr genaues Gegenstück: ein altes Paar, das die Weisheit erlangt hat oder zu erlangen in Begriff steht, die himmlische Ausgabe von Romeo und Julia. Zwischen beiden Paaren, in einem Terrain, wo alles hart umkämpft ist, befinden sich der Adoptivsohn, der Neger, gelegentlich die beiden ehemaligen Farmer: Sie sind die Zuschauer der Liebe, der Chor, der das Leben schenkt oder nimmt, es beglaubigt.
    Die beiden Städte, in denen der erste Teil des Romans spielt, sind mit erkennbarer Objektivität beschrieben (mittels eines weiteren Sturzbachs von Beschreibungen), wobei sich jenseits von ihnen eine Traumlandschaft erahnen lässt: Wolken, die unglaublich tief, fast auf Höhe der Blitzableiter hängen, Bäume (die Arcimboldi aus unerfindlichen Gründen »Bäume von Oklahoma« nennt), die verwachsen, einsam, von Vögeln und kleinen Nagern bevölkert dastehen, schwarzgrüne Gespenster auf trostlosen Wiesen, illegale, die ganze Nacht über offene Spielhöllen, Herbergen mit Vier-Bett-Zimmern, Farmhäuser mit verrammelten Türen und Fensterläden, Cowboys, die vom Sattel aus auf das Tal und eine große Weite schauen. Im Tal die beiden in der Sonne schimmernden Städte; auf dem Berg der Cowboy, rauchend und lächelnd und mit einem Anflug von Traurigkeit, in jener versonnenen und ausruhenden Haltung die wir aus so vielen Filmen kennen.
    Zwischen dem Ende des ersten und dem zweiten Teil gibt es eine Klotür, die jemand öffnet (wer, erfahren wir nicht), um dahinter auf einen Zwerg zu treffen, der sich an einem Zwergwaschbecken die Zähne putzt. Teil zwei beginnt genau dort: Ein Privatdetektiv (Sam O’Rourke) kniet vor einem Zwergwaschbecken, putzt sich die Zähne und betrachtet sich mit unendlicher Traurigkeit im ebenfalls auf Zwergenhöhe angebrachten Spiegel. In diesem Moment öffnet jemand die Tür (vermutlich derselbe, der zuvor die Tür geöffnet und auf den Zwerg gestoßen war) und gibt ihm den Auftrag, die verschwundene Erbin wiederzufinden. Auf das Bild des knienden, zähneputzenden Detektivs kommt Arcimboldi immer wieder zurück: ein auf seine wahre Größe reduzierter Mann; Beschreibung von Badezimmerfliesen (im Hardee-Royston-Stil, mit grünen und grauen Blumen auf mattierter Oberfläche); Beschreibung der einzigen Glühbirne, die nackt über dem Spiegel baumelt; der Schatten der sich öffnenden Tür; die schwere Silhouette im Türspalt und die Augen des Unbekannten, die

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