Die Noete des wahren Polizisten
niemals im Esszimmer, von der schmutzigen und zu hoch hängenden Lampe, von den Ecken der Wohnung oder der Decke, die manchmal, in überschwänglichen, drogenschwangeren Nächten, Augen ähnelten, aber geschlossenen oder toten Augen, wie er eine Sekunde später begriff, trotz Überschwang und trotz Drogen, und jetzt begriff, obwohl er sich gerne geirrt hätte, Augen, die sich nicht öffneten, Augen, die nicht blinzelten, Augen, die nicht schauten. Er sprach auch von den Straßen in seinem Viertel, von den Lebensmittelgeschäften, in denen er einkaufen ging, als er acht war, von den Zeitungsständen, von der ehemaligen Avenida José Antonio, die wie der Fluss des Lebens war und an die er jetzt mit Wehmut zurückdachte, sogar der vielgeschmähte Name José Antonio hatte in der Erinnerung etwas Schönes und Trauriges, wie der Name eines früh verstorbenen Banderilleros oder eines früh verstorbenen Bolero-Komponisten. Ein jugendlicher Homosexueller, gemordet von den Kräften der Natur und des Fortschritts.
Er sprach auch von seiner gegenwärtigen Situation, er hatte mit Adriá, Rageneaus Neffen, Freundschaft geschlossen, eine Freundschaft, in der Sex außen vor blieb: eine irgendwie klösterliche Freundschaft, sagte er, sie würden Hand in Hand gehen und sich über alles mögliche unterhalten, über Sport oder Politik (Adriás Freund war Leichtathlet und aktives Mitglied der Coordinadora Gay de Cataluña), über Kunst und Literatur. Manchmal, wenn Adriá ihn inständig darum bat, las er Passagen aus Der Gott der Homosexuellen vor, und manchmal weinten sie zusammen, Arm in Arm auf dem Balkon, während sie zusahen, wie die Sonne hinter der Plaza Molina versank.
Mit Ragueneau war er allerdings schon ins Bett gegangen. Er schilderte das Ereignis minutiös. Das Zimmer von Ragueneau, in dem Karibik-Blau und Ebenholz-Schwarz vorherrschten, mit afrikanischen Masken und alten Tonfiguren (was für eine Mischung!, dachte Amalfitano). Ragueneaus schamhafte, leicht beschämte Nacktheit, zu viel Bauch und zu dünne Beine, die Brust enthaart und schwabbelig. Seine von einem Spiegel reflektierte, noch akzeptable Nacktheit, vielleicht mit weniger Muskelmasse, aber akzeptabel, mehr Greco und weniger Caravaggio. Ragueneaus Ängstlichkeit in seinen Armen, zusammengekauert, das Zimmer abgedunkelt. Ragueneaus Worte, wenn er sagte, so gehe es ihm bereits prima, perfekt, in seinen Armen zu liegen und einzuschlafen. Die Ahnung von Ragueneaus Lächeln im Dunkeln. Die phosphorroten Kondome. Ragueneaus Zittern, als er ohne die Notwendigkeit von Vaseline, Creme, Spucke oder sonstigen Schmiermitteln penetriert wurde. Ragueneaus Beine, die mal angespannt waren, mal seine Beine suchten, die Zehen, die seine Zehen suchten. Sein Penis im Arsch von Ragueneau, und Ragueneaus halb erigierter Penis, gefangen in seiner linken Hand, und das Stöhnen Ragueneaus, der ihn anflehte, seinen Schwanz loszulassen oder ihn wenigstens nicht so zu drücken. Sein Glück, überraschend, rein, wie ein bengalisches Feuer in der Dunkelheit des Zimmers, und Ragueneaus Lippen, einen schwachen Protest modulierend. Die Geschwindigkeit seiner Hüften, sein unverminderter Stoß, seine Hände, die Ragueneaus Körper streicheln und zugleich über dem Abgrund halten. Die Angst des Konditors. Seine Hände, die Ragueneaus Körper packen und vor dem Abgrund bewahren. Ragueneaus Stöhnen, das anschwellende Keuchen, als würde man ihn verstümmeln. Ragueneaus fast ersterbende Stimme, die sagt, langsamer, langsamer. Seine befleckte Seele. Aber versteh mich nicht falsch, sagte Padilla. Was so viel hieß wie: Versteh mich nicht so falsch wie sonst immer, versteh mich nicht falsch. Ragueneaus unschuldiger Schlaf und seine Schlaflosigkeit. Seine Schritte, die die ganze Wohnung durchqueren, vom Klo zur Küche, von der Küche zum Wohnzimmer. Ragueneaus Bücher. Der Aldo-Ferri-Sessel und die mit Brancusi liebäugelnde Lampe. Das Morgengrauen, das ihn nackt und lesend überrascht.
15
Das Krankenhaus in Tijuana, wo Amalfitano sich einem Aidstest unterzog, hatte ein Fenster, durch das man auf eine Brachfläche sah. Dort mühte sich unter einer sengenden Sonne und zwischen Gerümpel und Müll ein kleiner, stämmiger Typ mit riesigem Schnurrbart und augenscheinlich energischem Charakter damit ab, aus Kartons, die er überall auflas, eine Art Lager herzurichten. Er ähnelte dem rothaarigen Piraten aus der Comicserie Duffy Duck, nur mit dem Unterschied, dass seine Haare und sein Bart pechschwarz
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