Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Augen nur bedingt trauen kann. Was ich sicher weiß, ist, dass es meinen Gott gibt und dass ich, aus mir unverständlichen Gründen, sein Prophet bin. Das mag für andere Menschen unbedeutend sein, für mich aber ist es mein größtes Wissen. Sonst gibt es wohl nicht viel, was ein Mensch wirklich wissen kann.«
»Aber ich weiß zum Beispiel sicher, dass morgen früh die Sonne aufgehen wird!«, entgegnete Odysseus provozierend.
»Woher wollt Ihr das wissen? Ihr habt sie doch noch gar nicht gesehen. Und, wie schon gesagt, selbst wenn man etwas gesehen hat, darf man seinen Augen nicht unbedingt trauen. Vielleicht ist das, was Ihr morgen früh für die Sonne haltet, in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Vielleicht ist es ein Feuerdämon, der Euch verbrennen will.«
Odysseus schwieg betroffen. So hatte er die Sache noch nicht betrachtet.
»Aber in Eurer Welt gibt es ja überhaupt keine Dämonen«, ergänzte Seshmosis besänftigend.
»Wir brauchen keine Dämonen, denn wir haben ungerechte und grausame Götter. Warum sollten sie die Freude der Lust am Quälen anderen Wesen überlassen?«, beschloss Odysseus düster das philosophische Gespräch.
Im Laufe der Nacht erzählte der Achäer noch viele Abenteuer aus seinem Leben, schweifte dabei immer wieder ab und berichtete von unglaublichen Dingen, die ihm angeblich widerfahren waren. Schließlich stellte Homeros fest: »Mein Fürst, Eure Gedanken schlagen mehr Haken, als der flinke Hase zu folgen vermag. Doch scheint mir der Schatz Eurer Erfahrungen ein guter Stoff für ein großes Epos zu sein. Man sollte es dichten, aufschreiben und es Odyssee nennen.«
»Damit warte lieber noch ein paar Jahre. Es könnte ja sein, dass die Götter mir noch mehr aufregende Erlebnisse schenken, von denen es sich zu berichten lohnt«, vertröstete ihn Odysseus.
Als Seshmosis das Feuer endlich verließ, um sich hinzulegen, schwirrte ihm der Kopf. Noch lange jagten sich in seiner Fantasie die Bilder aus Odysseus' Erzählungen, bis er endlich erschöpft einschlief.
Am nächsten Morgen bereitete sich Seshmosis auf die ›Stunde des Dankes‹ vor und nahm den Schrein von GON aus seinem Versteck unter Deck. Da spürte er ein Vibrieren, und der Nomadengott materialisierte. In menschlicher Gestalt! Es war äußerst selten, dass sich GON als Mensch zeigte. Und noch nie war er als Frau erschienen.
Staunend blickte Seshmosis auf die dreißig Zentimeter große Kriegerin.
»Herr, hat deine weibliche martialische Erscheinung etwas mit Pallas Athene zu tun?«, fragte der Prophet verwundert.
»Nein! Die Mächte des Universums mögen mich davor bewahren, jemals als Olympier erscheinen zu müssen!«, sagte die kleine Gestalt energisch. »Wie immer möchte ich dir auch diesmal einen dezenten Hinweis auf bevorstehende Ereignisse geben. Ich empfehle dir, in nächster Zeit für alles offen zu sein. Und vor allem, wage es auf keinen Fall, in für dich ungewöhnlichen Situationen die ›Tafel der Väter‹ zu rezitieren!«
Ohne eine Reaktion des Schreibers abzuwarten, löste sich die Frauenfigur in fliederfarbene Nebelschleier auf, die sich nur langsam verflüchtigten. Zurück blieb ein völlig verwirrter Prophet.
Seshmosis fragte sich, was eine Kriegerin mit der ›Tafel der Väter‹ zu tun haben sollte. Er wusste ganz genau, dass in diesem Papyrus keine einzige Kriegerin vorkam. Die Aufgabe der Frauen in diesem Text bestand darin, Söhne zur Welt zu bringen, die mit den Töchtern anderer Frauen weitere Söhne zeugten. Und das über viele, viele Seiten, respektive Generationen. Und vor allem fragte sich der Schreiber, wozu eine Kriegerin seine Offenheit brauchte.
Grübelnd trug Seshmosis GONs Schrein zum Strand, um die ›Stunde des Dankes‹ zu zelebrieren.
Gerade als sich die Gruppe der Gläubigen nach dem Gebet wieder zerstreute, tauchte in der Bucht ein Schiff auf. Kurz darauf lief es nahezu steuerlos und ziemlich ungestüm auf den Strand zu. Knirschend kam es knapp neben der Gublas Stolz zum Stehen. Zerberuh blieb vor Schreck fast das Herz stehen.
»Seid ihr des Wahnsinns? Ihr hättet fast mein Schiff gerammt!«, brüllte er.
Vom anderen Schiff, das nur eine Armeslänge entfernt festsaß, kam keine Antwort. Zerberuh überlegte, ob es sich wohl um eines der berühmten ›Geisterschiffe‹ handeln mochte. Er hatte von dem Phänomen gehört, dass Schiffe ohne Besatzung steuerlos monate- und jahrelang durch die Meere kreuzten. Dann hörte er gegenüber ein Poltern und schließlich einen lauten,
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