Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
unverständlichen Fluch.
Eine behelmte Gestalt erschien hinter der Reling des fremden Schiffs. Wenn dies ein Geist ist, dachte Zerberuh, dann ist es ein sehr hübscher.
»Tut mir leid«, sagte die Kriegerin verlegen. »Wir wollten euch nicht rammen. Aber unser Schiff ist schwer beschädigt und fast nicht mehr steuerbar.«
Weitere Frauen mit Helmen erschienen drüben, und Zerberuh schmolz dahin. Vor allem, als eine füllige weibliche Gestalt mit üppiger Oberweite auf dem Deck auftauchte. Der Kapitän der Gublas Stolz war nämlich ein Liebhaber der »vollendeten Form«, wie er es nannte. Zerberuh besaß nicht nur einen ausgeprägten Hang zur Mystik, sondern auch zu dickleibigen Wesen. Bevor er sich damals, nach der Flucht aus Theben, GON zuwandte, war seine persönliche Hausgottheit Thoeris, jenes opulente, aufrecht gehende Nilpferd aus dem ägyptischen Pantheon gewesen. Eine Liebe, die bis heute nicht ganz erloschen war.
Die Stimme der Frau, die schon vorher mit ihm gesprochen hatte und offenbar die Anführerin war, brachte Zerberuh in die Realität zurück.
»Wir müssen dringende Reparaturarbeiten ausführen. Gibt es auf dieser Insel Material und Proviant?«
»Ja, es ist alles reichlich vorhanden«, antwortete der Kapitän. »Meine Freunde und ich werden euch gerne helfen.«
»Das ist gut. Ich bin übrigens Cleite aus dem Volk der Amazonen. Du hast ja eine ziemlich große Flotte, Fremder«, stellte die Kriegerin fest und deutete auf die Schiffe.
»Nein, nein«, korrigierte Zerberuh. »Ich bin Zerberuh aus Byblos. Leider besitze ich nur dieses einzige Schiff. Die Flotte gehört Odysseus, dem Fürst von Ithaka.«
Die hübsche junge Frau erblasste augenblicklich. »Odysseus, der Achäer?«, fragte sie entsetzt.
»Genau der. Was hast du denn? Ist dir nicht gut?«
Seshmosis, der das Gespräch am Strand aufmerksam verfolgt hatte, erinnerte sich an GONs letztes Erscheinen als Kriegerin und trat erwartungsvoll näher.
»Sorgt Euch nicht, edle Cleite! Der Krieg um Troja ist bereits zu Ende!«, rief er der Amazone oben an der Reling zu.
Nach kurzem Zögern verließ die Frau mit zwei ihrer Kameradinnen das Schiff und kam zu ihm an den Strand. Cleite nahm den Helm ab und ließ mit einer schwungvollen Kopfbewegung ihr langes, schwarzes Haar auf die Schultern fallen. Das erste Mal seit der Begegnung mit Ariadne verspürte Seshmosis wieder jenes angenehme Gefühl, das ihn so unruhig machte.
Es bedurfte keiner großen Menschenkenntnis, um festzustellen, dass die Erfüllung dieser Frau sicher nicht darin bestand, im Hinterzimmer einer Schreibstube Kinder großzuziehen. Aber so hatte Ariadne ja auch nicht ausgesehen. Für eine Kriegerin besaß Cleite erstaunlich weiche Gesichtszüge. Ihr Oberkörper war in einen prächtigen Brustpanzer gehüllt, und mit Ornamenten verzierte Beinschienen bedeckten ihre Unterschenkel. Seshmosis war fasziniert.
Leider erstickte Odysseus' plötzliches Erscheinen alle weiteren Träume des Schreibers. Der Fürst lenkte die ganze Aufmerksamkeit sofort auf sich.
»Ich hoffe, du kommst nicht mit der Absicht, den Tod deiner Königin Penthesilea zu rächen«, platzte Odysseus unhöflich dazwischen.
»Penthesilea ist tot?«, fragte Cleite fassungslos.
»Ja, erschlagen vom großen Achilleus. Und mit ihr starben viele deines Volkes. Troja ist gefallen, wir haben gesiegt! Es gibt keine Trojaner mehr, und ihre Verbündeten sind auch alle vernichtet.«
In Odysseus' Stimme schwang unverhohlene Häme mit.
Seshmosis fand es widerlich, wie er mit der jungen Frau redete.
»Gemeinsam mit unserer Königin Penthesilea sind wir nach Troja aufgebrochen«, erzählte Cleite traurig. »Doch in einem schweren Sturm verloren wir den Kontakt zu unserer Flotte. Seit vielen Monaten irren wir nun schon von Insel zu Insel und können weder Troja noch den Weg nach Hause finden. Bei einem erneuten Sturm verloren wir fast alle Ruder, und das Steuer wurde schwer beschädigt. So landeten wir schließlich hier an diesem Gestade, unser Schiff ein Wrack und wir selbst besiegt, ohne gekämpft zu haben.«
Mitleid für dieses bedauernswerte Geschöpf durchströmte Seshmosis, die Solidarität der Verirrten. Sein männlicher Beschützerinstinkt erwachte aus jahrelangem Tiefschlaf. Selbst gegen den mächtigen Odysseus würde er antreten, um diese Frau zu verteidigen.
Doch Seshmosis blieb es erspart, als Held zu sterben. Der Fürst hatte überhaupt nicht vor, die Amazonen anzugreifen. Auch er war des Krieges müde, und vor
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