Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
sagenumwobenen Kyklopen.«
»Ich habe von diesem Volk schon gehört. Da haben wir ja Glück gehabt, dass wir auf dieser Insel gelandet sind«, antwortete der Blinde. »Die Kyklopen sind primitive Riesen mit einem einzigen Auge mitten auf der Stirn. Roh und ungeschlacht und kulturlos. Sie kennen keinen Tanz, kein Lied und keine Musik. Man sagt, dass sie weder pflügen noch säen noch ernten. Das Brot reift direkt am Halm, und die Sonne keltert ihnen den Wein in der Traube. Sie üben kein Handwerk aus und scheuen jegliche Arbeit. Aber allesamt stammen sie von den Göttern ab.«
»Glaubst du das wirklich, mein lieber Homeros?«, fragte Seshmosis skeptisch »Ich meine, dass Brot am Halm wächst und solche Sachen? Das klingt doch sehr nach Lügengeschichten.«
»Mag sein, mein junger Freund, mag sein. Aber so wurde es mir berichtet.«
Seshmosis hoffte auf eine Gelegenheit, den Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte überprüfen zu können.
Am Abend brannten am Strand der Ziegeninsel viele Lagerfeuer.
Um eines saßen Seshmosis, Homeros, Nostr'tut-Amus, Mumal, Elimas, Almak, der Ochsentreiber, Elihofni, der Steinbrucharbeiter, und Aruel, der Wasserträger. Nebenan, etwas näher am Wasser, lagerten Kalala, El Vis, Tafa und der junge Skamandrios.
Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit Odysseus neben Seshmosis auf. Jetzt, da seine Männer satt waren und genügend Vorräte herangeschafft hatten, wirkte der Fürst entspannt und gab sich leutselig. Ungefragt setzte er sich an das Feuer der Tajarim.
»Ohne euer verrücktes hölzernes Pferd lägen wir höchstwahrscheinlich immer noch vor Troja. Doch nun steht unserer Heimkehr nach Ithaka nichts mehr im Weg«, begann Odysseus.
»Wo liegt eigentlich Eure Heimat?«, fragte Seshmosis.
»Ithaka ist das westlichste der achäischen Königreiche. Um dorthin zu gelangen, müssen wir erst nach Süden segeln, dann zwischen Arkadien und Kreta nach Westen und dann wieder nach Norden. Es ist noch ein langer Weg, bis ich mein Weib Penelope und meinen Sohn Telemachos endlich wieder sehen kann.«
Seshmosis glaubte einen Hauch von Wehmut in Odysseus' Stimme zu hören.
»Ihr wart lange von zu Hause fort, Fürst. Fürchtet Ihr nicht, dass andere sich inzwischen Eures Landes und Eurer Güter bemächtigt haben könnten?«
»Keiner würde es wagen, Anspruch auf das Reich des großen Odysseus zu erheben! Allein dieses Ansinnen wäre schon ein Frevel!«
Seshmosis spürte, dass er einen empfindlichen Punkt des Fürsten berührt hatte. Dessen Sicherheit war keineswegs so groß, wie er vorgab. Er beschloss, schnell von etwas anderem zu reden, und fragte ihn, wie es zu seiner Teilnahme am Kampf um Troja gekommen sei. Odysseus gefiel dieses Thema besser, und er erzählte bereitwillig:
»Eigentlich wollte ich nie in diesen Krieg ziehen, Schreiber. Palamedes hatte mich überlistet, und dafür ließ ich ihn später bezahlen. Furchtbar bezahlen. Ich fälschte sehr überzeugende Beweise für einen Verrat. Man glaubte mir und meinen Anschuldigungen gegen Palamedes, und die Achäer steinigten ihn deshalb für etwas, was er in Wirklichkeit gar nicht getan hatte. Aber das sind eben meine Stärken: Taktik und List. Agamemnon brauchte mich für diesen Krieg nicht wegen meiner zwölf Schiffe und der paar Männer, die ich aufbieten konnte. Er brauchte meinen Verstand, meine Erfahrung und meine List. Ich hasse das ganze Kriegerpack, aber ich werde das Beste aus dieser Sache für mich herausholen. Das konnte ich schon immer, und so wird es auch diesmal sein.«
Seshmosis verstand. Odysseus vereinte die Gewaltbereitschaft eines Neoptolemos mit dem Instinkt für persönliche Vorteile von Raffim, die politische Rücksichtslosigkeit eines Agamemnon mit der Menschenkenntnis von Nestor.
Die Vereinigung dieser starken Eigenschaften ergab eine höchst destruktive, vernichtende Mischung. Odysseus war zweifellos der gefährlichste aller Achäer, weil er in seinem Denken so unachäisch war. Der Mann dachte nach, bevor er zuschlug, und er schlug dann zu, wenn der andere nicht damit rechnete.
Nach einer Pause wollte Odysseus mehr über Seshmosis erfahren.
»Als Schreiber hast du dich sicher schon mit vielen Dingen beschäftigt und verfügst über ein großes Wissen.«
»Es gibt nicht viele Dinge, die ich sicher weiß«, wehrte Seshmosis ab. »Die meisten Texte, die ich in meinem Leben gelesen habe, entsprachen nicht der Wahrheit, sondern waren Meinung oder gar Propaganda. Und ich musste lernen, dass man selbst den eigenen
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