Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
verflüssigt hast.«
Erschrocken sprang Seshmosis von der Liege. Wirklich, auf dem Laken zeigte sich ein großer schwarzer Tintenfleck und ebenso auf seinem Gewand.
»Inek pu iuti-ibef!«, stieß der Schreiber einen altägyptischen Fluch aus, was so viel bedeutete wie: »Ich bin einer, dessen Verstand nicht da ist«, also schlicht gesagt: »Ich bin ein Dummkopf.«
Vorwurfsvoll wandte er sich wieder dem Fisch zu: »Herr, ich hätte eher erwartet, dass du sagst: ›Mein lieber Seshmosis, du hast mit der ganzen Sache nichts zu tun‹ oder: ›Es besteht nicht der geringste Anlass, beim Anblick eines schwarzen Schiffes in Panik zu verfallen.‹ Bitte sag mir, was habe ich falsch gemacht? Ich bin mir keiner Schuld bewusst.«
»Überlege doch einmal! Ich sage nur: Amulett, schwarzes Schiff und Dauerlauf hierher. Wer ein reines Gewissen hat, rennt nicht durch die ganze Stadt, nur weil er ein kretisches Schiff erblickt.«
»Gut, ich gestehe, das Gerede des Händlers über einen Minoer, den seine Götter zu sich riefen, hat mich nervös gemacht.«
»Zu Recht, völlig zu Recht.«
»Und wie bekomme ich das Ganze wieder bereinigt, mein Herr?«
»Oh, bei Tintenflecken nimmt man am … Aber das meinst du ja gar nicht. Die Sache mit dem Amulett ist schon schwieriger, weil es da etliche Beteiligte gibt – Menschen, Götter, Zwischenwesen. Das wird dich einige Mühe kosten, aus dieser Sache wieder heil herauszukommen.«
»Wieso nur habe ich das Gefühl, o Herr, dass du mich nicht mehr so magst wie früher? Zuerst lässt du zu, dass mir Raffim die Heiligen Rollen unter der Nase wegstiehlt, und jetzt lässt du mich mit dem Amulett im Regen stehen.«
»Das hat nichts mit der Beziehung zwischen dir und mir zu tun. Dinge geschehen nun einmal, vor allem, wenn Menschen beteiligt sind. Glaubst du wirklich, dass jede deiner Handlungen von einem Gott gelenkt wird? Dann wärst du nichts als eine Marionette, ohne eigene Verantwortung, ohne Willen. Und ohne Freiheit!«
»Aber die Götter greifen doch immer wieder ins Leben der Menschen ein. Das habe ich oft genug erlebt!«, widersprach Seshmosis.
»Eingreifen ja, wenn sie eine Sache interessiert oder wenn sie sich bedroht fühlen. Sie reagieren wie Menschen, wenn etwas in ihrer Nähe passiert. Wenn es weit genug weg von ihnen geschieht, spielt es für sie keine Rolle.«
»Und das Amulett? Ist es in der Nähe von einem Gott? Oder einem Etwas?«, fragte der Schreiber zaghaft.
Bevor der Fisch antworten konnte, verschwand er mit einem leisen Plop. Im selben Augenblick klopfte es an Seshmosis' Tür, und noch bevor er »Herein!« sagen konnte, stand ein Diener in seinem Zimmer.
»Prinzessin Kalala wünscht dich in der großen Halle zu sprechen!«, verkündete er unmissverständlich und verließ den Raum, ohne eine Reaktion abzuwarten.
Seshmosis schaute noch einmal zum Schrein von GON, doch er wusste, dass er im Augenblick nicht mehr erfahren würde. Resigniert zog er das tintenbefleckte Gewand aus und legte ein frisches an. Er durfte nicht vergessen, den Nomadengott bei der nächsten Begegnung zu fragen, wie man Tintenflecke aus Textilien entfernte.
*
In den Badehäusern zahlreicher ägyptischer Städte kam es innerhalb kurzer Zeit zu einer Häufung plötzlicher und unerklärlicher Todesfälle beim Personal. Die Priester zeigten sich ratlos, rieten den Badehausbetreibern aber vorsichtshalber zu erhöhten Opfergaben in ihrem jeweiligen Tempel.
Die tragischen Schicksale der zu früh verstorbenen verhalfen Aram unversehens zu einer großen Anzahl qualifizierter Fachkräfte für das soeben fertig gestellte Badehaus in Amentet. Anubis hatte es nämlich geschafft, die anderen Götter von Arams Idee zu überzeugen, und war mit Feuereifer daran gegangen, die nötigen Uschebti zu besorgen. Natürlich gab es da eine gewisse Befangenheit des Totenrichters, und so mancher Badespezialist landete nicht gemäß seines zweifelhaften Lebenswandels im Maul des zahnreichen Babi, sondern fand die unverdiente Gnade der Erlösung. Allerdings erheblich früher als ursprünglich vorgesehen.
Anubis' Traurigkeit wegen seiner deprimierenden finalen Tätigkeit wich der Freude am eigenen, sinnvollen göttlichen Wirken. Der Totengott ließ Aram völlig freie Hand und stattete ihn mit allen notwendigen Vollmachten aus.
So wurde das Badehaus von Amentet bis ins Kleinste eine Kopie des Badehauses von Theben, das Aram viele Jahre geleitet hatte. Jeder verborgene Versorgungsgang und jedes einzelne Handtuch
Weitere Kostenlose Bücher