Die Nomadengott-Saga 03 - Die Weltenbaumler
tat, wie ihm geheißen, und steckte das Dach in Brand.
Gunnars Frau und ihre beiden Kinder, die bisher das Ganze von der Haustür aus beobachtet hatten, rannten zum Stall, um das brüllende Vieh zu retten. Doch Hallfred trat ihnen in den Weg.
»Besser nicht! Ihr könntet sogleich mit all dem Vieh darin verbrennen. Bringt lieber euren Hofherrn schnellstens zur Vernunft, sonst brennt bald auch das Haus und ihr mit ihm!«
Man merkte, dass die Missionare nicht zum ersten Mal diese Strategie anwandten.
»Gunnar!«, schrie die Frau entsetzt. »Tu etwas!«
Gunnar fiel auf die Knie: »Dann tauft mich eben. Und die anderen mit dazu.«
»So ist es gut. Vier gerettete Seelen für das Haus des Herrn. Dann wollen wir zur Taufe schreiten«, sagte Tangbrand mit salbungsvoller Stimme.
»Aber lasst uns vorher das Vieh retten!«, bat Gunnar verzweifelt.
»Nein!«, entgegnete der Priester eiskalt. »Seht dies als Strafe für eure Widerspenstigkeit. Der Herr mag es nämlich gar nicht, wenn man ihm widerspricht. Und wir sind treue Diener des Herrn.«
*
Baldur stürzte wie ein gefällter Baum. Als er auf dem Boden aufschlug, erbebte ganz Asgard, die Weltenesche erzitterte, und in Midgard, der Menschenwelt, brach ein schrecklicher Sturm los. Selbst die ewigen Dunstschleier von Nebelheim zerrissen für einen Augenblick, und im Feuerreich von Muspellheim jagten die Flammen über die weiten Ebenen.
Entsetzt schauten sich die Asen an, unfähig zu sprechen, unfähig zu handeln. Erst langsam dämmerte ihnen, was soeben geschehen war. Sie sahen Loki neben dem blinden Hödur stehen, der den Bogen noch in der Hand hielt und nicht begriff, dass er eben seinen Bruder ermordet hatte. Odin erkannte, dass Loki hinter der feigen Tat steckte, doch er durfte nichts unternehmen. Das Idafeld war ein Thingplatz, eine Friedensstätte, auf der keine Gewalt ausgeübt werden durfte, bis von der Versammlung aller ein Urteil gesprochen war.
Nach und nach kamen die Götter wieder zu sich. Loki fürchtete, dass er trotz aller Regeln selbst hier in Gefahr war, und ergriff die Flucht. Doch keiner folgte ihm, zu tief saß immer noch der Schock. Erst langsam begannen die Tränen zu rinnen, und der Skaldengott Bragi sang:
Blinder Bruder in karger Kate
Haltender Hände heilende Heimat
Wie wollt ich singen unter dieser Last?
Wie sollt ich singen, für wen und was?
Der Gehängte wendet das Auge
Vom Brunnen, der den Durst entfacht
Wie wollt ich singen unter dieser Last?
Wie sollt ich singen, für wen und was?
Blinder Bruder auf dem Idafeld
Blinder Bruder auf dem Feld der Welt
Der Pfeil pfeift so schnelle
Ungeacht' unbedacht
Des Endes rascher Anfang
Die Mistel gebiert die Nacht
Wie wollt ich singen unter dieser Last?
Wie sollt ich singen, für wen und was?
Das allgemeine, lähmende Entsetzen griff jedoch nicht auf die mythischen Tiere von Walhall über. Ganz im Gegenteil erwachten deren Instinkte. Obwohl sie es noch nie erlebt hatten, wussten sie ganz genau, dass der Tod eines Gottes der Anfang von einem schrecklichen Ende war. Ein Ende, das auch sie nicht unberührt lassen würde.
Die Tiere auf dem Dach von Walhall, die Ziege Heidrun, der Hirsch Eikthynir und der Hahn Salgofnir, verließen schnell ihren luftigen Platz. Vor dem prächtigen Eingang trafen sie auf den Eber Sährimnir und die Wölfe Skalli und Hati. Heidrun sah den Wölfen und dem Eber in die Augen, und sofort herrschte bei den so unterschiedlichen Tieren Einigkeit: Flucht! So nutzten sie die Verwirrung der Götter auf dem Idafeld und rannten oder flatterten an den Rand von Asgard. An der Regenbogenbrücke Bilfröst hielten sie vorsichtig an. Normalerweise wachte hier Heimdall darüber, dass niemand von Midgard nach Asgard gelangen konnte. Doch der Wächter der Götter, der Sohn von neun Müttern, weilte nicht an seinem Posten. Sein scharfes Auge hatte den fallenden Baldur entdeckt, und er war sofort auf das Idafeld geeilt, dem Bruder zu helfen.
»Der Weg ist frei. Gehen wir!«, kommandierte Heidrun, und das erste Mal in der Geschichte der Welt folgten zwei Wölfe einer Ziege, ohne sie zu jagen.
Sicher gelangten sie über Bilfröst in die Menschenwelt. Vorsichtig sahen sich die Tiere noch einmal um, doch niemand war zu sehen, der sie verfolgte, vor allem keine Götter.
»Lasst uns einen Menschen suchen, der uns aufnimmt«, sagte Heidrun und stakste zuversichtlich auf ein einsames Gehöft zu.
So kam es, dass es im Stall von Gamli Stein, dem ehemaligen
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