Die Nonne und der Tod
rau wie der Stoff ihres Umhangs.
»Diese Mädchen sind nicht viel besser als Tiere«, sagte sie, und ihre Stimme klang auf einmal weich, beinahe flehend. »Du weißt doch, wie sie leben. Mit dem Vieh liegen sie im Schmutz, sie können nicht lesen und wissen nichts von der Welt.« Mit der freien Hand drehte sie mein Gesicht zu sich, sodass ich sie ansehen musste. Im Halbdunkel der Küche wirkten ihre Augen so grau wie ihr Haar. »Diese Mädchen sind froh, wenn ein Tagelöhner sie besteigt wie ein Ziegenbock, wenn er ihnen ein Kind macht, das genauso auf den Feldern schuften muss wie sie selbst.«
Ich versuchte, mein Gesicht abzuwenden und aufzustehen, aber Mutter ließ es nicht zu. Das Thema war mir unangenehm. »Das sind meine Freundinnen«, sagte ich. »Warum redest du so schlecht über sie?«
Draußen vor der Tür wurde die Musik allmählich leiser. Ich hörte einzelne Worte einer Unterhaltung, konnte aber nicht verstehen, worum es ging.
Mutter seufzte und schloss die Finger fester um meine Hand. »Nicht schlecht, nur ehrlich. Ich möchte, dass du verstehst, welches Geschenk dieses Blut ist, das in dir fließt. Gäbe es deinen Vater nicht, würden wir im Dreck leben wie all die anderen, und ich hätte dich schon längst an einen Viertelhüfer oder Tagelöhner verheiraten müssen. Das hätte mir das Herz gebrochen.« Ihr Blick glitt über mein Gesicht wie eine zärtliche Berührung. »Sein Gold gibt dir Freiheit. Ich will, dass du sie nutzt.«
Ich wusste, dass sie recht hatte. Die Goldmünze, die uns jedes Jahr zu Weihnachten von einem Kurier überbracht wurde, ermöglichte uns ein sorgenfreies Leben. Lange hatte ich es nicht zu schätzen gewusst, doch je älter ich wurde, desto deutlicher erkannte ich die Unterschiede zwischen unserem und dem Leben der meisten anderen Dorfbewohner.
»Werde ich ihn je kennenlernen?«, fragte ich nicht zum ersten Mal.
Mutter schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Sie kämpfte stets mit den Tränen, wenn sie von meinem Vater sprach. »Du weißt, dass ihm seine hohe Stellung nicht ermöglicht, dich anzuerkennen. Aber er liebt dich, sonst würde er uns nicht noch nach all den Jahren mit solcher Großzügigkeit unterstützen.«
Und du liebst ihn , dachte ich. Mutter hätte jeden im Dorf haben können, aber sie hatte sich geweigert, bis sie irgendwann niemand mehr umwarb. Ich war das einzige Mädchen im Dorf, das keine Geschwister hatte, und das einzige, das lesen konnte.
Bis heute glaube ich, dass Mutter dachte, eines Tages würde Wilbolt von Overstolzen, Bürgermeister der Stadt Coellen, zu ihr zurückkehren.
»Schon bald«, sagte sie nach einem Moment, als sich die Ochsenkarren draußen rumpelnd in Bewegung setzten, »wird dein Vater einen jungen Mann schicken, einen Krämer vielleicht oder sogar den Sohn eines Apothekers. Er wird um deine Hand anhalten und uns mitnehmen nach Coellen.« Sie tätschelte meine weiche Hand mit ihrer harten. »Bis dahin musst du rein bleiben und keusch sein, verstehst du?«
So oft hatte ich die Worte schon gehört, dass ich ohne nachzudenken nickte und antwortete, wie es von mir erwartet wurde: »Er wird auf einem Pferd reiten und Kleidung aus reinem Samt tragen, und alle werden ihn anstarren, wenn er vor unserer Hütte absteigt und mich fragt, ob ich Ketlin, Tochter von Magda sei. Und dann wird er sich vor mir verneigen und sagen, ich sei das hübscheste Mädchen, das er je gesehen habe.«
»Und das reinste«, fügte Mutter wie immer hinzu. Sie ließ meine Hand los und stand auf. Ihre Knie knackten. »Vergiss das nie.«
»Nein, Mutter.«
Sie ließ mich nicht mehr aus dem Haus an diesem Tag. Gegen Nachmittag kam Schwester Johannita, so wie jeden Mittwoch seit zwei Jahren. Sie war eine dicke, streng wirkende Frau, die nach Schweiß und Erde roch und eine saubere, vornehm wirkende Nonnentracht trug. Ihr Alter war unter der eng anliegenden Haube, die ihr Doppelkinn nach vorn schob und sie zum Nuscheln zwang, kaum zu erahnen, aber ich schätzte, dass sie älter als Mutter war. Ihre Haare hatte ich noch nie gesehen.
Wir hatten das Geld, das der Bürgermeister uns zukommen ließ, lange sparen müssen, um uns ihre Besuche leisten zu können. Bei Schwester Johannita lernte ich Lesen und Schreiben, Rechnen und vor allem Benehmen. Stundenlang stand sie mit einem Stock in der Hand hinter mir, während ich so tat, als säße ich bei einem hochherrschaftlichen Bankett, als müsse ich mit Adligen reden und wie eine Dame essen. Wenn ich einen Fehler
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