Die Nonne und die Hure
keinen Fall aus den Augen verlieren.
Brinello führte Celina, Christoph und Hans in eine der Schänken, in denen die Speisen auf einem Tisch angerichtet und lediglich mit einer Glocke aus Glas bedeckt waren. Celinas Magen begann zu knurren. Als die Bedienung die Glasglocke hob, stiegen ihr köstliche Düfte in die Nase. Die meisten dieser Speisen waren ihr wohlbekannt. Es gab sardelle in saor mit Zwiebeln, Pinienkernen und Rosinen, Gelatine von Kapaunen und Drosseln, Blutwürste und den unvermeidlichen Klippfisch mit Zitronensoße. Celina bestellte einen Teller Suppe mit Bohnen und Schweinefleisch, den die Bedienung empfohlen hatte. Während des Essens sprachen sie wenig. Das Lokal war voller Menschen, die aßen, tranken und mit heftigen Gesten aufeinander einredeten. Brinello wischte sich den Mund am Tischtuch ab,trank einen großen Schluck aus seinem Weinbecher und begann zu sprechen.
»Wir müssen verdammt vorsichtig sein. In den nächsten Tagen und Wochen wird uns sicher nichts geschehen, weil die Signoria damit beschäftigt ist, Lion und den gedungenen Mörder zu finden. Danach wird man sich jedoch wieder auf die Bücherverbrennung besinnen – ein neues Spektakel für das Volk. Wir dürfen die Stadt bis auf weiteres nicht verlassen. Ich weiß nicht, was wir angesichts dieser Lage tun sollen.«
»Uns ruhig verhalten und versuchen, den Rest unserer Bücher und Schriften in Sicherheit zu bringen«, meinte Christoph.
Hans sah ihn scharf von der Seite an. »Du willst auf deinen Tod warten? Ich hätte dir ein mutigeres Verhalten zugetraut. Ich für meinen Teil werde das Verbot nicht einhalten und aus dieser Stadt verschwinden.«
Celina sah sich in dem Raum mit der niedrigen, rauchgeschwärzten Decke um. Die anderen Gäste waren mit sich selbst beschäftigt, keiner hörte ihnen zu. Je mehr Wein sie zu sich nahmen, desto lauter wurden ihre Gespräche. Celina musste die Stimme heben, um zu den anderen durchzudringen.
»Ich glaube nicht, dass sich die Signoria große Mühe geben wird, Lion und den Mörder zu finden. Schließlich war er der Liebling aller hochgestellten Patrizier und des Dogen selbst. Zu leicht könnte ein schlechtes Licht auf sie fallen. Es wäre nicht das erste Mal, dass versucht wird, etwas zu vertuschen. Es ist ja schon einmal jemand hingerichtet worden; ich habe mir gleich gedacht, dass es der Falsche war. Sie werden auf die Macht des Vergessens bauen.«
»Und was gedenkst du zu tun?«, fragte Christoph.
»Ich würde den Abt selber suchen und ihn den Behörden ausliefern.«
»Wo willst du denn anfangen zu suchen?«, fragte Brinello mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen. »Wir haben keinerlei Anhaltspunkt.«
Hans legte den Finger an die Nase, wie immer, kurz bevor ihm etwa einfiel.
»Ich hab’s«, sagte er. »Der Löwe könnte solch ein Anhaltspunkt sein. Was sagt uns diese Figur?«
»Der geflügelte Löwe ist das Wahrzeichen der Serenissima «, meinte Brinello. »In der Offenbarung des Johannes wird der Evangelist Markus mit einem Buch und einem geflügelten Löwen dargestellt. Seine Gebeine kamen im 10. Jahrhundert nach Venedig, wo sie noch heute in einem Schrein in der Markuskirche aufbewahrt werden.«
»Und was bedeutet der geflügelte Löwe noch?«, fragte Hans.
»Er ist ein Symbol für die Stärke Venedigs gegenüber Rom und Byzanz, überhaupt ein Symbol für Stärke.«
»Was für ein Symbol ist er noch?«, fragte Hans weiter.
»Er ist ein Symbol für die Wiederauferstehung und die Überwindung des Todes«, fiel Celina ein.
»Das könnte wirklich ein Anhaltspunkt sein«, erwiderte Brinello. »Wenn sich Lion seinen Namen selbst gegeben hätte, weil er sich allmächtig und unsterblich fühlt, wo könnte er dann jetzt eurer Meinung nach sein?«
»Er könnte in ein anderes Kloster gehen und sein Treiben dort ungehindert fortsetzen – unter einem anderen Namen.«
»Oder er begibt sich in den Schutz eines Menschen, der ebenfalls an seine Allmacht, wie an die des Löwen, glaubt.«
»Und wo haben wir diese Löwen? Überall. Schaut euch doch mal um in dieser Stadt.« Brinello winkte ab.
»Der Löwe ist auch außerhalb der Stadt zu finden«, warf Celina ein. »Wir müssen erfahren, wo Lion seine Gönner und Freunde hat.«
»Und wo erfahren wir das?«, fragte Brinello.
»Natürlich im Kloster Convertite«, sagte Hans und lächelte.
Im Kloster Convertite herrschte ein heilloses Durcheinander. Viele Nonnen standen, von Kisten und Kasten umgeben, im Kreuzgang und warteten
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