Die Nonne und die Hure
bewachsen war. Noch einmal schlugen sie ihr Nachtlager in den Bergen auf. Die kalte Sichel des Mondes stand über ihnen. Der nächste Tag begann mit einer Wärme, die selbst hier auf den Höhen des Gebirges zu spüren war. Es war Mitte Oktober, aber die südliche Sonne brannte schon bald auf sie herab. Sie ritten hinunter ins Val Lagarin, rissen sich Kleider und Haut an stacheligen Büschen und wilden Rosen auf. Die Sohle des breiten Tales war mit Gras bewachsen. Hier und dort hatte ein Bauer die Erde für einen Acker umgegraben, und an den sanft ansteigenden Hängen wuchsen Reben mit dicken blauroten Trauben. Das Massiv des Monte Baldo erstreckte sich wie ein Hahnenkamm zwischen Tal und See. Bald hatten sie die Olivenbäume hinter sich gelassen und erreichten die verkarsteten, teilweise bizarren Felsformationen, die von Lorbeerbüschen und Steineichen umstanden waren. Sie ritten gerade durch einen lichten Olivenhain, als Christoph Hufgetrappel hörte. Die beiden blickten sich erschrocken um. Und da kamen sie durchs Unterholz geprescht, mindestens zehn an der Zahl. Das waren die Häscher der Signoria . Wie hatten sie die beiden nur aufgespürt? Doch es war keine Zeit, Überlegungen anzustellen. Sie galoppierten einen steinigen Weg hinauf. Er bot wenig Schutz vor den Kugeln der Verfolger. Der Weg führte in Richtung des Berggipfels. Von den Nüstern ihrer Pferde flogen Flocken mit dem Wind davon.
Beim Zurückschauen sah Christoph, dass die Männer sich in zwei Gruppen aufgeteilt hatten und versuchten, ihnen weiter oben den Weg abzuschneiden. Sie durften auf keinen Fall anhalten, weil sie sonst ein festes Ziel für ihre Pistolen geboten hätten. Christoph hatte seinen Kopf fast auf den Hals des Pferdes gelegt und trieb es unbarmherzig weiter nach oben. Jetzt zischte eine Kugel an ihm vorbei, weitere folgten. Der Himmel über der Bergspitze leuchtete in einem tiefen Blau. Hier gab es so gut wie keinen Schutz mehr, keine Büsche, nur noch Moose, Flechten und Hochgebirgspflanzen. Vor ihnen tat sich ein Abgrund auf, eine Schlucht, an deren Sohle ein Bach dahinschäumte. Sie wandten sich nach links und ritten am Rand entlang. Das Donnern der Hufe kam näher. An einer Stelle wurde die Schlucht so schmal, dass Christoph Hans zurief: »Wir springen!« Hans nahm einen Anlauf und flog über die Spalte hinweg. Auf der anderen Seite wäre das Pferd fast gefallen, doch es rappelte sich wieder auf. Christoph sprang ebenfalls und drehte den Kopf. Die Männer hatten angehalten und schienen zu beraten. Christoph sah, dass Blut aus einer Wunde an Hans’ Ärmel floss. Ein langgezogener Schrei ertönte. Einer der Männer musste beim Versuch, es ihnen nachzutun, in den Abgrund gestürzt sein. Lass es die anderen nicht versuchen, betete Christoph.
Als hinter ihnen nichts mehr zu hören war und der Ziegenpfad sich schon wieder abwärts wand, hielten sie an. Hans kletterte mühsam aus dem Sattel. Christoph tat es ihm nach und untersuchte die Wunde. Hans stöhnte vor Schmerzen. Christoph untersuchte eine Zeitlang den Boden, zupfte ein paar Blätter heraus, kaute sie und strich sie ihm auf die Wunde.
»Du hast Glück gehabt«, meinte Christoph. »Die Kugel hat dich nur gestreift.«
»Was ist das?«, fragte Hans.
»Schafgarbe, das hat meine Mutter in Frankreich uns Kindern auf die kleinen Verletzungen gestrichen, wenn wir vom Spielen nach Hause kamen.« Er verband die Wunde mit einem sauberen Tuch, das er aus seinem Beutel holte, und sie ritten weiter, dem See entgegen, der tief unter ihnen leuchtete. Die Schatten der Zedern, Krüppeleichen und Wacholder wurden allmählich länger. Hans schwankte im Sattel, sein Gesicht war schweißbedeckt, und auch Christoph fühlte sich schmutzig und erschöpft. Ab und zu drohte Hans die Besinnung zu verlieren, aber er richtete seine Augen immer wieder auf den Spiegel des Sees, der im abendlichen Dunst dalag und auf die fernen Häuser von Riva, dem Ziel ihrer Reise.
»Ich glaube, dass wir unter einem guten Stern stehen. Alles wird gut«, sagte Christoph. Gegen Abend erreichten sie das Ufer des Sees. Die Dunkelheit sank schnell herab. Sie wagten nicht, sich in einer der verlassenen Hütten in den Oliven- und Zitronenhainen niederzulassen, um ein wenig zu schlafen. Der Mond ging als riesige runde Scheibe über den gegenüberliegenden Uferbergen auf und warf eine breite Bahn auf die Oberfläche. In seinem Licht passierten sie Torri del Benaco, immer auf einem steinigen Muliweg am Ufer entlang. Schließlich
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