Die Nonne und die Hure
Mann, der in der ersten Reihe auf einem bevorzugten Platz saß. Er hatte einen vollen graubraunen Bart, stechende dunkle Augen und trug eine hellbraune Mütze sowie einen Fellmantel.
»Wer ist das?«, fragte sie flüsternd ihre Nachbarin.
»Kennst du den nicht? Das ist Gerolamo Priuli, der Doge von Venedig«, flüsterte die Novizin zurück.
Celina setzte sich in die hinterste Reihe. Neben ihr saß ein junger Mann in einfacher Kleidung; er wandte ihr kurz sein Gesicht zu, und sie sah, dass er glänzende blaugraue Augen hatte. Die hellbraunen, lockigen Haare waren zu einem Pagenkopf frisiert. Sein Lächeln, mit dem er sie ansah, gab ihm den Ausdruck von Jungenhaftigkeit. Der Vorhang aus rotem Samt wurde hochgezogen, und das Schnattern, Rascheln und Füßescharren verstummte. In der Mitte der Bühne saß eine Nonne mit Priesterhut und Brokatmantel auf einem Stuhl. Celina glaubte Margarethe, die Pförtnerin, in ihr zu erkennen. Sie drehte eine Weltkugel in den Händen. Der Chor in schwarz-weißem Habitus sang im Hintergrund: »Ehre sei Gott in der Höhe und der Kirche ein Wohlgefallen.«
Eine junge Nonne mit feinen, glühenden Gesichtszügen betrat die Bühne. Ihre Gestalt war etwas rundlich, und unterder Nonnenhaube quollen blonde Locken hervor. Sie wartete in gebührender Entfernung von dem Priester, der sich bei genauerem Hinschauen als eine Frau erwies.
»Tritt nur näher, mein Täubchen«, sagte er mit verstellt tiefer Stimme. »Hab keine Angst, noch ein Stückchen näher.«
Als die junge Frau direkt vor ihm stand, fasste er sie mit der einen Hand am Kinn, mit der anderen am Arm. Die Nonne wich zurück.
»Ehrwürdiger Vater, ich …«
»Du gefällst mir, mein Täubchen. Lass heute Nacht deine Zellentür offen, ich habe noch spät bei der Äbtissin zu tun.«
Das Publikum lachte dröhnend, einige schlugen sich auf die Schenkel vor Vergnügen. Was ist daran eigentlich so lustig? dachte Celina. Sie spürte, dass ihr Nachbar sie immer wieder von der Seite her ansah. Ihre linke Wange begann zu brennen. Die junge Nonne auf der Bühne verbeugte sich, küsste dem Priester die Hand und trat ab. Auf einem anderen Teil der Bühne kniete sie in ihrer Zelle und schaute verzweifelt zum Kruzifix an der Wand hinauf, das den einzigen Schmuck des Raumes bildete.
»O Jesus Christus«, stammelte sie. »Er will mich zwingen, mein Gelübde, das mich an dich bindet, zu brechen und dir Hörner aufzusetzen. O Herr, erleuchte mich, auf dass ich keine Sünde begehen muss!« Hinter den Gittern des Zellenfensters erschien das Gesicht eines jungen Mönches mit Kapuze. Seine Finger umklammerten die Eisenstäbe.
»Lukrezia, ich flehe dich an«, rief er halblaut. »Lass den Priester fahren, er ist fern von Gott und seinen Geboten.«
»Was soll ich tun, Bruder Lukas?«, wandte sich die Nonne an ihn.
»Komm in einer Stunde zum Kanal«, antwortete der Mönch. »Da wartet ein Boot auf dich und bringt dich in Sicherheit.«
»Aber die Entführung einer Nonne wird hart bestraft«, wandte sie ein.
»Das ist mir gleichgültig. Ich muss dich aus den Klauen dieses Satans befreien!«
Gebannt verfolgte das Publikum das Spielgeschehen. Die Nonnen huschten über die Bühne und schoben die Utensilien hin und her. In der nächsten Szene stieg Lukrezia in das Boot, eine reich verzierte Gondel. Im Hintergrund war die beleuchtete Kulisse der Stadt zu sehen mit einem Mond aus Goldpapier. An den Seiten standen gusseiserne Pfannen mit glühenden Kohlen, welche die Szenerie in ein schummriges Licht tauchten. Der Gondoliere machte Ruderbewegungen, und Lukrezia schlug ein ums andere Mal die Hände vors Gesicht. Im Publikum herrschte atemlose Stille.
»Wo bringst du mich hin?«, rief sie dem Ruderer zu.
»An einen Ort, wo du in Sicherheit bist«, antwortete der Mann und zog sein Ruder weiter durch das imaginäre Wasser. Am Ufer des Kanals ertönte wildes Geschrei. Der Priester, die Äbtissin und etwa fünf Nonnen gestikulierten, und eine weitere Gondel wurde losgemacht. Eine Wettfahrt begann, während der sich die Verfolger immer mehr näherten. Lukrezias Gondel erreichte den Markusplatz, sie verließ im letzten Moment das Boot und wurde von Lukas in Empfang genommen. Der Gondoliere brachte sich mit ein paar kräftigen Schlägen aus der Reichweite der Verfolger. Lukas und Lukrezia liefen auf den Platz und verschwanden in einer der Seitengassen. Der Vorhang fiel, das Publikum klatschte begeistert.
»Jetzt ist eine Pause«, wandte sich der junge Mann an
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