Die Nonne und die Hure
Lido zog an ihnen vorbei mit seinem Sandstrand, die Inseln Le Vignole, San Erasmo und Mazzorbo. Schon von weitem sahen sie den hoch aufragenden Turm von Santa Maria dell’Assunta, daneben die kleinere, gedrungene Kuppel von La Fosca. Schließlich landeten sie am Ufer, das mit Gras bewachsen war. Sie baten den Fischer zu warten und schritten auf die Klosterkirche zu. Ein Mönch in schwarzer Kutte wies ihnen den Weg zum Abt. Sie fanden Murare in der Kirche, wo er im Gebet versunken vor einem Seitenaltar kniete. Sie nahmen im Chorgestühl Platz, um ihn nicht bei seiner Andacht zu stören. Der Kirchenraum war prachtvoll ausgeschmückt; die gesamte Westseite überspannte ein Fresko mit Bildern zum Weltgericht. Nach einiger Zeit erhob sich Murare und schaute sie fragend an. Sie erklärten ihm kurz ihr Anliegen und überbrachten Grüße von dem römischen Kardinal.
»Ich weiß Bescheid«, sagte er mit freundlicher Altmännerstimme. »Kommt mit mir in unseren Klostergarten, da können wir ungestört reden.«
Zwischen Buchsbäumen, Liebstöckel und Johanniskrautwandelten sie auf den sauber angelegten Wegen. Ein herb-süßer Geruch lag in der Luft, Bienen und Hummeln umsummten die späten Rosen und die Kapuzinerkresse.
»Was wollt Ihr nun wissen?«, fragte Murare. »Ich bin nur ein unbedeutender Abt eines kleinen Klosters auf einer abgelegenen Insel. Viel werde ich Euch nicht weiterhelfen können.«
Celina räusperte sich, doch Christoph kam ihr zuvor.
»Wir wollen wissen, wie der Rat in der Frage der Verleger und der Buchdruckereien vorgehen will.« Sie hatten vorher ausgemacht, mit scheinbar harmlosen Fragen anzufangen.
»Aber darüber weiß ich nichts, mein Sohn. Wollt Ihr nicht eine Eingabe an den Zehnerrat selbst machen?«
»Das hat überhaupt keinen Zweck!«, platzte Celina heraus. »Der Rat hat versucht, die Morde an den Nonnen zu vertuschen, angeblich, damit keine Nachahmungstäter auf den Geschmack kommen. Wir glauben, dass es Machenschaften zwischen Kirche, Doge und Bürgern dieser Stadt gibt, von denen ich ebenfalls betroffen war.«
Das schmale, faltige Gesicht des Abtes versteinerte.
»Das sind ungeheuere Anschuldigungen, die Ihr erhebt, meine Liebe! Habt Ihr keine Angst, deswegen als Hochverräterin angeklagt zu werden?«
Er faltete die Hände und blickte zum Himmel, an dem sich Federwölkchen zeigten. »Sprecht nicht weiter, sonst muss ich Euch von diesem Platz verweisen«, fügte er hinzu.
Christoph warf Celina einen warnenden Blick zu und fuhr fort:
»Sebastiano Kardinal Battista, den uns mein Freund Hans empfohlen hatte, gab uns Eure Adresse für den Fall, dass wir mit unserem Latein am Ende wären. Er, das heißt, dieser Kardinal, gab uns zu verstehen, dass Ihr ein … nun … ein aufmerksamer Beobachter der Zusammenhänge wäret.«
Die Augen des Alten leuchteten auf. »Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt? Battista ist freilich ein großer Geist, und wo er mit seiner Einschätzung recht hat, hat er recht. Was hat er Euch erzählt?«
»Dass es dunkle Machenschaften in der Serenissima gebe«, sagte Celina. »Und dass Geldmittel von hier bis nach Rom fließen würden. Im Anschluss daran gab er mir einen Brief, in dem er mich von allen Sünden lossprach und meine Ehre als Bürgerin der Stadt Venedig wiederherstellte. Außerdem gab er mir Eure Adresse; er sei mit Euch befreundet. Wenn es schlimm komme, solle ich zu Euch gehen.«
Murare wirkte nachdenklich.
»Ihr sucht mich also in meiner Funktion als Seelsorger auf und als jemanden, für den die Wahrheit über allem stehen soll – die Wahrheit Gottes wie auch der Welt, selbst wenn es mich den Kopf kosten sollte.«
»Ja, wir suchen die Wahrheit, wollen aber nicht, dass Euch etwas passiert, Ehrwürdiger Vater«, sagte Celina.
»Ach, Vater, musst du mir eine solch schwere Prüfung auferlegen?«, klagte Murare und blickte erneut zum Himmel. Die Schreie von Möwen klangen aus der Ferne herüber.
»Ihr braucht uns nicht alles zu verraten«, beschwichtigte Christoph. »Aber gebt uns wenigstens einen Hinweis, wie wir dieser Wahrheit näherkommen könnten.«
Murare stand eine Zeit lang in sich gekehrt da. Das Schweigen war so greifbar, dass Celina das Summen einer Hummel überlaut hörte.
»Ich werde Euch diese Hinweise geben«, sagte der Abt und begann wieder mit seinem Rundgang durch den Garten. Die beiden folgten ihm.
»Achtet genau auf meine Worte. Der Abt des Klosters Convertite heißt in Wirklichkeit nicht Cornelli, sondern Lion«, sagte er
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