Die Nordischen Sagen
erneut sein Aussehen, nahm die Gestalt eines Adlers an und flog davon.
Frigg durchstreifte unterdessen die Welten und erzählte allen Geschöpfen von ihrem Kummer, und jedes weinte um Balder. Nur noch die Tränen einer einzigen Riesin fehlten. Ihr Name war Thökk, und sie wohnte in einer so unwirtlichen Gegend, dass niemand sie je zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Ein Adler wies Frigg den Weg zu ihrer Höhle, und es wurde Abend, bis sie die Riesin gefunden hatte.
»Bitte weine mit mir um meinen Sohn, dann lässt Hel ihn gehen«, sagte Frigg, als die Riesin sie fragend ansah. »Was ist, warum sagst du nichts?« Frigg spürte, wie die Angst ihr die Kehle zuschnürte. »Bitte, nur eine einzige Träne. Nur du fehlst noch. Bitte, ich war doch schon überall.«
»Dein Sohn ist mir egal, Göttin, völlig egal«, entgegnete Thökk und verschwand in ihrer Höhle.
Und aus den Tiefen der Erde glaubte Frigg ein schrilles Lachen zu hören. Ein Lachen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Er kam wie aus dem Nichts: Der Sturm heulte auf und peitschte die Flocken vor sich her. Gleichzeitig bebte die Erde, und der Himmel glich von einem Moment zum anderen einem wirbelnden Abgrund aus Wolken und Blitzen. Plötzlich riss die graue Wand auf, und Thor brach daraus hervor. Schön und schrecklich zugleich.Auf die vielfache Asengröße angewachsen, stand er drohend auf seinem Streitwagen. Sein rotes Haar wehte im Wind, und er schwang Mjöllnir in der rechten Faust.
Thor jagte Loki, und Frigg blickte stumm zu ihm hinauf.
Sein Gesicht war verzerrt vor Hass, und er schrie, um seine schaumtriefenden Böcke anzutreiben, in seinen Augen aber lag unendliche Trauer. Der göttliche Wagen raste über den Himmel, und wo die Räder die Wolken berührten, hinterließen sie eine flammende Spur.
So schnell, wie er erschienen war, verschwand die Erscheinung auch wieder, bis auf ein leises Donnern, das sich langsam in der Ferne verlor.
Frigg hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Niemand, der sie in dieser Stunde gesehen hätte, hätte sie erkannt. Ihre Hände waren zu Fäusten verkrallt, alles an ihr hatte sich verändert. Ihr ebenmäßiges Gesicht war um Jahre gealtert und gleichzeitig so hart geworden, dass es beinahe einem Mann glich. Und in ihren Augen lag derselbe Ausdruck wie in Thors Augen. Steinern blickte Frigg dem Wagen des Donnergottes nach.
»Thor, mein Sohn, geh und töte ihn!«, flüsterte Frigg. Und ihre Lippen bewegten sich kaum.
Die Atla-Schlucht
D ie Schluchten von Niflheim sind so tief, dass die Nacht dort niemals endet. Die tiefste dieser Schluchten ist die Atla-Schlucht, und selbst Odin, der Göttervater, war nur ein einziges Mal dort. An dem Tag nämlich, da er sie erschuf.
Jetzt kauerte dort unten Fenrir, der abscheuliche Sohn Lokis, der Dämon in Wolfsgestalt. Er biss und zerrte an dem dünnen Seil, das ihn durch Zauberkräfte an den Stein der Schlucht kettete. Sein Schwanz peitschte unruhig durch die Luft, seine Krallen stemmten sich in den harten Boden. Doch je mehr Fenrir tobte, desto fester zog sich die Schlinge um seinen Hals zusammen. Rasend vor Hass und Zorn fauchte der Dämon, und hundertfach fauchte es zurück. Einen Moment hielt der Wolf inne und lauschte dem Echo seiner eigenen Stimme, dann warf er den riesigen schwarzen Kopf in den Nacken und heulte, dass es bis hinauf nach Asgard zu hören war.
Die Götter waren alt geworden. Äußerlich nicht, natürlich. Solange sie die goldenen Äpfel der Göttin Idunaßen, blieben Odins Arme stark und Thors Bart rot. Aber in ihrem Inneren, in den Herzen der Götter, herrschte längst der Fimbulwinter.
Wie so oft in den letzten Tagen stieg Odin die Leiter zu Hlidskialf, seinem Wolkensitz, hinauf und hielt Ausschau nach Loki. Doch er konnte ihn nirgendwo entdecken. Nicht in den Weiten Asgards, nicht in Mittelerde, der Welt der Menschen, der Zwerge und Riesen, und auch nicht in Niflheim, dem Reich der Kälte und der Schatten. Loki blieb verschwunden. Und auch wenn Thor mit seinem Bocksgespann über die Wolken raste, um Loki zu stellen, so wusste Odin doch, dass dieses letzte Mal die Klugheit der Götter allein nicht ausreichen würde, um Loki zu finden und zu bestrafen.
Odin blickte auf die drei Welten zu seinen Füßen, die er vor so langer Zeit geschaffen hatte. Er fand sie immer noch schön. Schön genug, um sich dafür selbst dem Schicksal entgegenzustellen. Noch einmal spürte er die alte Kraft in sich. Er ballte die Fäuste und stieg wieder von seinem
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