Die Novizin
Arbeit verrieten seine Leidenschaft.
»Was sind das für Teufel, die du da meißelst, Sicard?«
Er schien gekränkt zu sein. »Das sind keine Teufel!«
»Was denn dann?«
Er blickte meinen Vater an, als hoffe er auf dessen Unterstützung. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Die Entwürfe stammen von unserer Herrin Eleonore. Sie hat für mich Bilder in den Sand gezeichnet.«
»In den Sand!«, rief mein Vater missbilligend.
»Ich mache genau das, worum sie mich gebeten hat.«
»Und wo sind diese Bilder jetzt?«
»Sie sind natürlich nicht mehr da. Aber es war ihr ausdrücklicher Befehl, dass ich die Figuren nach ihren Entwürfen anfertige.«
»Und wenn ein Mönch die Skulpturen sieht und fragt, wer sie entworfen hat, wirst du ihm sagen, es war die Herrin Eleonore? Dann rösten deine Füße bald im Feuer, mein Junge!«
Ich überließ die beiden ihrem Gezänk, betrachtete stattdessen Sicards Werk eingehender und versuchte herauszufinden, wie er dem kalten Stein diese schreienden, sich windenden Phantome zu entlocken vermochte. Seine Kunst hatte etwas Unheimliches an sich. Eines Tages würde mein Sicard ein hervorragender Steinmetz sein, vielleicht sogar einer der besten.
»Auf eine gewisse Weise sind sie wunderschön«, warf ich ein.
»Das mag sein«, knurrte mein Vater mit vollem Mund. »Aber ich weiß beim besten Willen nicht, was solche Skulpturen in einer christlichen Kirche zu suchen haben.«
»Die Herrin wollte es so haben«, beharrte Sicard. »Und der Herr bezahlt die Ausführung.«
»Diese gottlosen Templer bezahlen dafür, willst du wohl sagen.« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Es gibt viele merkwürdige Skulpturen in dieser Kirche. Ich begreife das nicht. Doch es ist, wie du gesagt hast: Der Herr kommt für die Kosten auf.«
Plötzlich hörte ich das vertraute Summen in meinen Ohren und fühlte Kälte durch meinen Körper kriechen. Die Geister in den Steinen erzitterten, die Sekunden dehnten sich zu Stunden, und die Arme der Dämonen umschlangen mich unerbittlich. Ich erblickte meine Mutter. Sie trug das Gewand einer Büßerin und war mit den Füßen an die Wand eines Kerkers gekettet. Dann sah ich Sicard. Ein Messer steckte in seinem Rücken. Ich hörte ihn meinen Namen rufen und wusste nicht, ob dies in Wirklichkeit oder nur in meiner Vision geschah. Kalter Schweiß lief meinen Körper hinab, dann gaben meine Knie nach.
Sicard muss mich aufgefangen haben, noch ehe ich zu Boden sank.
ELEONORE
Die Morgensonne hatte den Nebel durchdrungen und den alten Stein unter meinen Fingern erwärmt. Tief sog ich die thymiangeschwängerte Luft ein. In den terrassenartig angelegten, grünen Weinbergen hingen noch immer Dunstschleier.
Es gab Rebsorten, die seit den Zeiten der alten Römer dort wuchsen. Die Terrassen waren mit Steinmauern befestigt worden, die einem Mann bis zur Brust reichten. Ich beobachtete, wie ein Bauer einen großen Stein aufhob und ihn wieder an seinen Platz in der Mauer zurückschob. Dann stellte ich mir vor, wie diese Weinberge entstanden waren. Hunderte von Männern mussten die Erde aufgehäuft und die Steine für die Mauer herbeigeschleppt haben, während ihr römischer Aufseher seine Peitsche knallen ließ.
Der Boden ist hier von Felsen durchsetzt, und in der dünnen, steinigen Erde gedeihen Oliven- und Feigenbäume beinahe ebenso gut wie im Heiligen Land. Pilger, die von dort zurückgekehrt sind, haben gesagt, dass unsere Gegend sie an die Hügel von Jerusalem erinnert. Wir sind dem biblischen Land in vielerlei Hinsicht nahe, näher als jede andere Gegend in Frankreich. Denn bereits während des Römischen Reichs lebten hier Juden, also in einer Zeit, in der Christus selbst in den Bergen von Galiläa wandelte.
Es heißt, dass die Muttergottes und Maria Magdalena nach der Kreuzigung hierher kamen, um der Verfolgung zu entgehen. Gemeinsam mit Lazarus und Joseph von Arimathaia bestiegen sie in Caesarea ein Segelschiff, erreichten Frankreich und fanden Zuflucht bei anderen Juden, die sich hier niedergelassen hatten. Es wird zudem behauptet, dass Maria Magdalena bei ihrer Ankunft schwanger war. Ich habe mich oft gefragt, warum in der Legende so viel Wert auf diese Einzelheit gelegt wird und wessen Kind es gewesen sein könnte.
Unser Alltag ist noch immer von etlichen Sitten und Gebräuchen der heidnischen Römer bestimmt. Aus diesem Grund bringen uns die Bewohner des Nordens auch dermaßen viel Misstrauen und Verachtung entgegen. Ihr könntet hier zum Beispiel kein Haus
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