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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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betreten, ohne sofort die rostrote Farbe an den Wänden zu bemerken, die bei den Römern sehr beliebt war. Auffällig sind auch die gerundeten, rosafarbenen Dachziegel, die in zwei verschiedenen Formen gebrannt werden und genau ineinander passen. Die Dächer werden mit großen Steinen beschwert, damit der scharfe Nordwind die Ziegel nicht hinunterweht.
    Noch älter als derlei Sitten und Gebräuche sind allerdings die von Dickicht und Dornbüschen überwucherten Tempel. Wenn Ihr durch den Wald wandert, kann es sein, dass Ihr auf einen Mosaikfußboden stoßt, aus dem das Gesicht eines heidnischen Gottes aus blauen und weißen Steinchen zu Euch emporstarrt. Und wenn die Steinmetze in den Steinbrüchen nach geeignetem Material für die Kirche suchen, fördern sie bisweilen römische Münzen zutage – und manchmal auch römische Götzenbilder, von denen allerdings nur im Flüsterton gesprochen wird. Auch in den Geschichten alter Weiber finden sich noch allenthalben Nymphen und Satyrn, die an schattigen Flussufern tanzen. Lacht ruhig! Aber geht einmal allein in unseren Wald, dann werdet Ihr die Anwesenheit dieser älteren Geister fühlen. Ihr werdet beim Ruf einer Krähe zusammenfahren und davoneilen, während kalter Schweiß über Euren Rücken rinnt.
    Vielleicht entdeckt Ihr ja sogar eine jener kleinen Statuen aus schwarzem Stein, von denen manche behaupten, dass sie die Jungfrau Maria darstellen. Niemand weiß, woher diese Figuren stammen, doch trotz all der Verwüstung durch die Bischöfe und ihre Truppen werdet Ihr stets Reste von Kerzentalg und frische Blumen an ihren Sockeln finden. Dennoch sind wir gute Katholiken – gezwungenermaßen. Doch tief in unseren Herzen hängen wir an den alten Ritualen.
    Die Römer schürften dort oben in den Bergen nach Gold und Silber. Tief unter den von Geistern heimgesuchten, vernarbten Hängen befinden sich düstere Grotten, in denen ihre Sklaven die glänzenden Adern aus dem nackten Fels schlagen mussten. Einige der Höhlen enthalten Säulen aus Kalkstein, die von der Decke herabhängen oder vom Boden emporwachsen. Und in der modrigen Stille kann man manchmal das Geräusch fließenden Wassers hören – den unterirdischen Strom, der durch die Geschichten unseres Landes fließt.
    Dieser Strom floss schon zu Lebzeiten von Maria, der Mutter unseres Herrn. Sein Wasser ist schwarz, es besitzt heilende Kräfte und fühlt sich warm an, obwohl es eigentlich so kalt sein müsste wie Eis. Unter den Hügeln fließt es von hier bis zum Meer. Wenn man diesen Fluss findet und hineinsieht, erblickt man der Legende zufolge das Antlitz der Heiligen Maria von Bethanien.
    Wenn Ihr dieses Land verstehen wollt, müsst Ihr die Legende verstehen, die sich um den Strom rankt. Ihr müsst uns kennen, wie wir uns selbst kennen. Wir sind die Auserwählten und die Befleckten. Das ist unser Geburtsrecht und es ist zugleich unser Fluch.
     
    *
     
    Raymond gesellte sich zu mir. Er trug nur ein weites Unterkleid aus Leinen und fror in der Kühle des frühen Morgens. Er war in der Kapelle gewesen und hatte gebetet, er beachtete die Kirchenvorschriften mit aller Sorgfalt. Mein Herr lehnte sich über die Brüstung, folgte der Richtung meines Blickes und runzelte die Stirn.
    »Was geht da unten vor sich?«, wollte er wissen. Trotz all der Jahre, die er nun schon hier lebte, sprach er noch immer mit dem harten Akzent des Nordens.
    Auf dem Weg, der in die Hügel führte, humpelten bereits die ersten Menschen – Kranke, Lahme, Kahlköpfige, Enttäuschte. Einige Pilger hatten von dem Wunder gehört und sich ihnen angeschlossen. Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, sodass zweifellos schon bald weitere Heilsuchende aus den Dörfern des gesamten Tals herbeiströmen würden.
    »Ein Mädchen hat die Madonna gesehen«, sagte ich und beobachtete, wie Raymonds Kiefermuskeln arbeiteten. Er fragte sich vermutlich, ob dies vielleicht von Vorteil für uns sein mochte oder ob es womöglich die Spießgesellen des Papstes auf den Plan rufen würde.
    »Haben wir irgendwelche Wunder zu vermelden?«
    »Genügt es nicht, dass ein Mädchen die Madonna gesehen hat?«
    »Nein. Wir müssten schon eine Statue vorweisen können, die Blut weint, oder einen Krüppel, der wieder laufen kann. Wenn wir die Pilger ausnehmen wollen, brauchen wir mehr als ein hysterisches junges Mädchen.«
    »Für die Menschen dort draußen reicht das.«
    »Das ist keine Empfehlung.« Raymond fröstelte in der Morgenfrische. »Ich möchte nun

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