Die Obamas
Er versuchte, sein Ringen um Rückhalt in die lange Reihe erhabener und vorwärtsdrängender amerikanischer Kämpfe einzuordnen. »Ich weiß, es kann manchmal hart sein, aber dieses Land ist auf Härte gegründet«, sagte er. Über die Geschichte der dreizehn Kolonien, die Unabhängigkeitserklärung, die Abschaffung der Sklaverei, das Frauenstimmrecht und die Weltwirtschaftskrise kam er schließlich zum Sieg über den Faschismus. »Auf jeder Stufe sind wir weitergekommen, weil jemand aufgestanden ist«, sagte er. Was er damit sagen wollte, war klar: Vergesst die Wahlen, ich bin Teil einer größeren Geschichte.
Am nächsten Tag – es war Halloween – flog der Präsident nach Washington zurück, legte aber in Cleveland einen Zwischenstopp für eine letzte Kundgebung ein. Zwei Jahre zuvor, unmittelbar bevor er Ohio für sich gewonnen hatte, waren in Cleveland 60000 Menschen zusammengekommen, um ihn zu hören. Jetzt waren die Republikaner drauf und dran, die Gouverneurswahl zu gewinnen. Die Arena, in der er sprach, war mit etwa 8000 Menschen nur zur Hälfte besetzt. [66]
Am Spätnachmittag verließ Obama die Marine One und ging auf das Weiße Haus zu, das mit Kürbissen und künstlichen Spinnennetzen dekoriert und in orangefarbenes Licht getaucht war. Die vom Ostflügel organisierten Feierlichkeiten fielen weitaus bescheidener aus als in den vorangegangenen Jahren. Kostümierte Gestalten standen auf dem North Portico und verteilten Süßigkeiten an Kinder aus Soldatenfamilien und örtlichen Schulen. Als die Dunkelheit hereinbrach, kam das Präsidentenpaar heraus und mischte sich unter die Menschen auf der vorderen Terrasse, die First Lady in einem festlichen orangefarbenen Pullover und mit glitzernder Wimperntusche. Der Präsident schien vor allem glücklich, unter Kindern sein zu können. Außerdem gab es noch einen weiteren Anlass zur Freude: Am Nachmittag hatten Malia und Sasha an einem geheim gehaltenen Ort großen Erfolg beim Sammeln von Süßigkeiten gehabt und wie andere Kinder auch »Süßes oder Saures!« gerufen.
Robert Gibbs hatte versucht, die Halloween-Feier im Weißen Haus abzusagen, weil er fürchtete, sie würde wenige Tage vor einem bevorstehenden Wahldebakel deplaziert wirken. Wieder einmal, so ein ehemaliger Mitarbeiter, hielt sich Gibbs an die Regel, »vor allem keinen Schaden anzurichten«. Doch Michelle hatte, unterstützt von David Axelrod, auf der Feier bestanden. Also hatte man wie geplant die orangefarbenen Glühbirnen und die Tüten mit den Süßigkeiten hervorgeholt. Ein weiteres kleines Zeichen für die neu gewonnene Macht der First Lady innerhalb des Weißen Hauses.
***
Doch kein Ereignis warf ein vergleichbar dramatisches Schlaglicht auf die veränderte Lage wie eine frühherbstliche Besprechung im Oval Office. Das war die Domäne des Präsidenten, aber die Besprechung fand statt, um die First Lady zufriedenzustellen und zu beschwichtigen.
Michelle hatte sich endlich zumindest grundsätzlich bereit erklärt, einige Wahlkampfauftritte für die Zwischenwahlen zu absolvieren – falls bestimmte Bedingungen erfüllt wurden. Sie wollte nicht in ein Flugzeug steigen oder vor ein großes Publikum treten, ohne vorher umfassend informiert worden zu sein: welche Wahlstrategie verfolgt werden sollte, wo sie etwas ausrichten konnte, wie sie ins Bild passen würde. Dabei hatte sie offenbar nicht nur sich selbst, sondern das ganze Unternehmen im Auge. Nur durch die angedrohte Verweigerung ihrer Mitarbeit konnte sie sicherstellen, dass es von Anfang an einen wohldurchdachten Plan gab und dass die Zwischenwahlen nicht eine Neuauflage des Fiaskos von Massachusetts werden würden.
Nun saßen die Obamas im Kreis der führenden Mitglieder des politischen Teams des Westflügels. Der Präsident übergab gleich nach der Begrüßung das Wort an Emanuel. Der schien so verblüfft, dass er den Ball sofort an Patrick Gaspard weitergab: »Äh, Patrick hat den Plan.«
Einer nach dem anderen traten sie vor die First Lady und breiteten aus, was sie anzubieten hatten: Argumente, Einzelheiten, Statistiken. Die Redenschreiber hörten aufmerksam zu und machten sich Notizen für die Wahlreden der First Lady. Patrick Gaspard, der politische Direktor, begann mit einer Übersicht über die allgemeine Lage vor den Wahlen. David Axelrod erläuterte in einer PowerPoint-Präsentation, welche Strategie man mittelfristig verfolgen wolle und wie die Auftritte beider Obamas in das Schema passen würden. Alle lächelten
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