Die Obamas
bringen können«, sagte sie. »Oder sie sind monatelang arbeitslos.« Sie griff zurück auf klassische Michelle-Obama-Themen, die sie schon bei »Public Allies« vertreten hatte und nun auf ein neues Gebiet übertrug, und forderte mehr Chancengleichheit für all jene, deren Potenzial die Gesellschaft nicht ausreichend würdigt. In manchen Passagen ihrer Rede wirkte sie unsicher und ein wenig niedergeschlagen, in anderen etwas hoffnungsvoller. Ihr Tonfall war weniger der einer selbstbewussten Lehrerin als der einer aufrichtigen Schülerin. Sie lächelte nur ein einziges Mal.
»Es ist schwer, jahrelang seinem Land zu dienen und dann feststellen zu müssen, dass dieser Dienst geringgeschätzt wird«, sagte sie. »Und es ist schwer, so lange Zeit so viel für eine Sache zu geben, die größer ist als man selbst, und dann nach Hause zu kommen und festzustellen, dass man nirgendwo richtig hineinpasst.« Damit hätte sie auch sich selbst und ihren Mann meinen können – vor allem ihren Mann.
***
Bill Clinton hatte als Präsident vor den Zwischenwahlen unermüdlich Wahlreden gehalten und mit einer Veranstaltung nach der anderen Schlagzeilen gemacht; seine Ausdauer und seine Freude an öffentlichen Auftritten waren legendär. Obamas Terminkalender war längst nicht so voll – ein weiterer Hinweis darauf, dass er in dieser Hinsicht ein anderes Politikverständnis hatte, das dadurch bestärkt wurde, dass nicht einmal alle Demokraten im Kongress hinter ihm standen: Im Herbst 2010 war Bill Clinton in vielen Wahlbezirken wesentlich beliebter als der amtierende Präsident.
Ein paar Tage vor den Zwischenwahlen kehrte der Präsident nach Chicago heim, um sich für die demokratischen Kandidaten in Illinois einzusetzen, und sprach zu Tausenden von Menschen, die sich auf einer Wiese mitten in Hyde Park versammelt hatten. Das Publikum hätte nicht besser sein können, doch dem Versammlungsort haftete etwas Deprimierendes an. Zwei Jahre zuvor hatte Obama in Chicago kaum Wahlveranstaltungen nötig gehabt. Aber inzwischen hatten ihn die Republikaner immer weiter zurückgedrängt, so weit, dass er jetzt nur wenige Straßen von seinem Haus entfernt das Terrain verteidigen musste – und das im tiefblauen Chicago. Das Amt des Gouverneurs von Illinois würde wahrscheinlich den Republikanern zufallen. Obamas Freund Alexi Giannoulias, der an dem Abend ebenfalls auftrat, würde in einem brutalen Kampf um den früheren Senatssitz des Präsidenten voraussichtlich den Kürzeren ziehen.
Wie er so auf einem riesigen Podium direkt gegenüber der früheren Schule seiner Töchter stand, das Gesicht in das Licht der Scheinwerfer getaucht und auf eine riesige Leinwand projiziert, konnte man den Eindruck gewinnen, dass sein sinkender Stern ihm durchaus zu schaffen machte. Er erinnerte an den Tag seiner Amtseinführung fast zwei Jahre zuvor. »Beyoncé sang, und Bono stand da oben, und alle waren froh und zufrieden«, sagte er. »Ich weiß, dass dieses schöne Gefühl uns entgleitet. Und wenn man mit Freunden spricht, die arbeitslos geworden sind, oder zusehen muss, wie jemand sein Zuhause verliert, dann verlässt einen der Mut. Dann sieht man die vielen Fernsehspots und die vielen Leute in den Talkshows und hat nur noch negative Gefühle. Und vielleicht verlieren dann manche von euch auch den Glauben.« So wie er von der Öffentlichkeit enttäuscht war, war die Öffentlichkeit auch enttäuscht von ihm. Beide Seiten fühlten sich verraten, missverstanden, im Stich gelassen.
Die große Überraschung bei den Zwischenwahlen war die Tea Party. Anderthalb Jahre nach ihrer Gründung war sie zu einer ernstzunehmenden politischen Bewegung geworden, die über ein großes Aufgebot an aussichtsreichen, wenn auch teilweise exzentrischen Herausforderern der demokratischen Amtsinhaber verfügte. (Eine Senatskandidatin, Christine O’Donnell, verkündete in einer Anzeige, dass sie keine Hexe sei; eine andere, Sharon Angle, hatte die bizarre Behauptung aufgestellt, die Attentäter vom 11 . September seien über Kanada eingereist.) »Ich verstehe nicht, warum manche sagen, diese Leute seien verrückter als die, die wir hier schon haben«, sagte der Präsident lachend zu Mitarbeitern. Obama scherzte, aber es war nicht klar, ob ihm der Unterschied zwischen den Republikanern, die bereits im Amt waren, und den Renegaten, die erst noch gewählt werden sollten, bewusst war.
In seiner Chicagoer Rede spielte er auch die Rolle des über den Dingen stehenden Historikers.
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