Die Obamas
fairen Prozess. Wenn ein republikanischer Präsident die Gesetze nach einer nationalen Katastrophe missachtete, war das nach Meinung von Obamas Gästen schon bitter genug. Doch wenn ein demokratischer Präsident, noch dazu ein Dozent für Verfassungsrecht, der sich im Wahlkampf den verbesserten Schutz der Bürgerrechte auf die Fahnen geschrieben hatte, diese Gesetzesverletzung auch noch zur offiziellen Politik erklärte, war das schockierend.
Vor dem Treffen hatten sich die Besucher darauf geeinigt, nicht auf Konfrontationskurs zum Präsidenten zu gehen, weil sie befürchteten, Beschuldigungen könnten auf sie zurückfallen. Anthony Romero, der Vorsitzende der American Civil Liberties Union, war jedoch entsetzt darüber, was er zu hören bekam: »Herr Präsident«, sagte er, den Blick fest auf Obama gerichtet. »Ich bin ein schwuler puertoricanischer Amerikaner aus der Bronx. Sie sind der einzige Politiker, an den ich je im Leben geglaubt habe. Sollten Sie den soeben angedeuteten Weg tatsächlich einschlagen, werden Sie Ihr Vermächtnis opfern und eine ganze Generation enttäuschen.« Es war ein wohlüberlegter Hieb, der direkt auf Obamas Überzeugung zielte, er sei nicht wie andere Politiker, und der auf die Tatsache anspielte, dass er gewählt worden war, weil er vielen Menschen den Glauben an Amerika zurückgegeben hatte.
Der Präsident reagierte impulsiv auf Romeros Worte, erinnerten sich die Teilnehmer der Konferenz. Man habe regelrecht sehen können, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. »Tony«, erwiderte er, obwohl Romero von allen Anthony genannt wurde, und setzte anschließend zu einer langen Belehrung an, er tue sein Möglichstes, und im Übrigen sei es wenig hilfreich, wenn die American Civil Liberties Union seine Politik mit der Bushs vergleiche.
Es war nicht das einzige Mal, dass Obama gereizt reagierte, wenn er mit der Enttäuschung seiner Anhänger konfrontiert wurde. Offenbar lasteten seine Wahlversprechen schwer auf ihm, und der scheinbar so selbstbewusste Präsident war wohl doch nicht so souverän, wie er wirkte. Er war der mächtige Führer der Vereinigten Staaten – und musste doch seine Machtlosigkeit eingestehen: Der Kongress zeigt sich nicht kooperativ, und ich kann kaum etwas daran ändern.
Das Treffen dauerte erheblich länger als die geplante Stunde, ganz gegen Obamas Gewohnheit. »Brennt noch jemandem etwas auf den Nägeln?«, fragte er, bevor sich die Versammlung auflöste. Romero beschwor den Präsidenten noch ein letztes Mal, einen Bush-Vertrauten strafrechtlich zu belangen. »Wenn Sie einen zur Strecke bringen, und das mit Pauken und Trompeten, wird das verhindern, dass wir dieselben Fehler noch einmal begehen«, sagte er.
»So weit Ihre persönliche Meinung«, sagte Obama herablassend. Damit war die Sitzung beendet.
***
Bis zum Sommer war überdies fraglich geworden, ob der Präsident die versprochene Gesundheitsreform würde realisieren können. Dass er ein so gewaltiges Gesetzeswerk bis zu dem von ihm selbst gesetzten Termin im August durchpauken würde, schien noch aussichtsloser zu sein als die Schließung von Guantanamo binnen Jahresfrist. Die Entscheidung des Weißen Hauses, dem Kongress die Verabschiedung des Gesetzes zu überlassen, erwies sich als gravierender Fehler. Das Gesetz hing im Finanzausschuss des Senats fest und verlor von Tag zu Tag mehr an Schwung. Der Präsident hatte still und leise das Wahlversprechen fallengelassen, durch die Reform würden die jährlichen Krankenkassenbeiträge um 2500 Dollar pro Familie sinken. Die Rechnung gehe nicht auf, hatten seine Wirtschaftsexperten seinen politischen Beratern erklärt, und sie sollten aufhören, mit dieser Zahl auf Wählerfang zu gehen.
Die Republikaner, die Obamas wunde Punkte genau registrierten, hatten Blut geleckt. Senator Jim DeMint aus South Carolina erklärte seinen konservativen Anhängern, mit einer Blockade der Gesundheitsreform könnten sie den Präsidenten »in die Knie zwingen«. Der Gesetzesentwurf sah die Schaffung eines Fonds für die Sterbeberatung vor, die Schmerzen lindern und teure, fruchtlose Behandlungen vermeiden sollte. Führende Republikaner, unter ihnen der Minderheitsführer des Repräsentantenhauses, John Boehner, denunzierten diesen Plan als »von der Regierung betriebene Euthanasie« bei alten Menschen. Es war eine völlig unbegründete, jedoch ungeheuer wirksame Attacke.
Obama fiel es nicht leicht, darauf zu reagieren. Zum einen waren die endgültigen Konturen des Gesetzes
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