Die Obelisken von Hegira
irgendein Schatz, den es zu beschützen gelte.
Im Innern des öden, goldenen Ziggurats wurden sie wiederum in eine Zelle gesteckt, geräumiger und komfortabler zwar, aber immer noch mit verriegelten Türen und gepolsterten Wänden. Siewurden nicht durchsucht. Schließlich hatte man sie schärfstens bewacht.
Barthel jedoch hatte sich während der ganzen Fahrt nicht gerührt. Er war für lange Augenblicke unbeachtet geblieben. Niemand hatte bemerkt, wie seine Hand hinunterlangte, um einen Metallstreifen abzubrechen, mit dem die Kante des Sitzes beschlagen war. Nicht einmal Bar-Woten hatte es gesehen.
Nur die Frau auf dem Sitz gegenüber. Sie hatte gelächelt.
23
Stunden verstrichen. Die Zelle wurde verdunkelt, und sie legten sich auf die bereitstehenden Feldbetten. Kiril hörte Bar-Woten schnarchen. Er preßte seine Augen ganz fest zusammen. Er versuchte, sich an Mediwewa zu erinnern. Irgendwie fand er den Weg dorthin, und sein Körper entspannte sich.
Etwas bewegte sich in der Dunkelheit.
Barthel war hellwach. Er langte unter sein Hemd und tastete nach dem scharfen Streifen, den er im Zug abgehebelt hatte.
Sie glühte, und beide Münder bewegten sich. Betäubt schwang er seine Füße aus dem Bett.
Der Bei hatte erschreckende Dinge gesagt. Er hatte Dinge gesagt, die fünfzehn Jahre gemeinsamen Reisens nie enthüllt hatten – nie hatten enthüllen können. Und indem er sie sagte, hatte er die Vergangenheit heraufbeschworen, sie wieder aufleben lassen, auf daß sie Barthel mit all jenen Dingen heimsuche, von denen er wußte, daß sie besser vergessen geblieben wären. Untergegangen wie Wackersteine in einem Tümpel.
Bar-Woten regte sich im Dunkeln und murmelte etwas.
Die Geistererscheinung sagte ihrem Sohn, er sei nicht länger Barthel, Diener des Bar-Woten. Dein Name ist Amma bin Akka. Du bist frei. Verfüge über deine Freiheit.
Kiril hörte einen Aufschrei und das Reißen von Stoff. Halbwach setzte er sich auf und grunzte eine Frage.
Bar-Woten spürte den Widerstand des Fleisches und die Wärme des Blutes, und dann war es zu spät. Er hatte mit der ganzen Unwillkürlichkeit eines Skorpionschwanzes reagiert, der geschickt wider sein Opfer schnellt, war dem Messer ausgewichen, ohne darüber nachzudenken, wer da eigentlich angriff, hatte das Bettzeug hochgeschleudert und den Schatten darin eingewickelt. Und der Schatten hatte mit dem Stahl auf ihn eingestochen, hatte wie ein erzürntes Kind mit der Faust drauflosgedroschen, heiser gekreischt und um sich getreten. Aus zwanzig Jahren Schlachterfahrung heraus hatte Bar-Woten gewußt, wo die Klinge war, die Hand aus der dunklen Luft gepflückt und die Klinge nach innen gedreht und ins Ziel gebracht. Nicht die geringste Chance … der Angreifer hatte keine Chance gehabt und das vielleicht auch gewußt. Aber er stürzte mit einem erstaunten Aufkeuchen zu Boden, und ob da nun zuerst Blut gewesen war oder der Widerstand des Fleisches oder das Reißen des Stoffes, konnte man unmöglich sagen. Es ging alles durcheinander.
Das Licht leuchtete auf. Ein Wächter stand verschlafen im Türbogen.
„Sie wollten dich töten!“ sagte Bar-Woten, als er Barthel, aus dessen Bauch Blut quoll, auf dem Fußboden liegen sah. „Sie wollten dir die Kehle durchschneiden, grad so, wie sie sie deiner Schwester durchgeschnitten hatten, statt uns dich lebend gefangennehmen zu lassen!“ Seine Stimme war ein Flüstern, weich und verwundert. „Wir haben sie getötet, um den Rest von euch das Leben zu retten. Ich hätte nie …“
Er hob den Metallstreifen, um ihn sich anzusehen.
Der Wächter schoß ihm zweimal durch den Kopf.
24
Die Nichtmenschen schritten hinter Kiril. Zu allen Seiten von ihnen bildeten bewaffnete Wachen eine Phalanx. Die Prozession bewegte sich durch die hochwandige Schlucht aus Stahl, Glas und Beton. Auf ihnen ruhten die Blicke Hunderttausender von Menschen, die auf den Terrassen auf beiden Seiten des Boulevards saßen. Papierwimpel knisterten durch die Luft, und Konfetti fiel in harten, kratzigen Flocken. Undeutlich hörte Kiril die Hochrufe und die „Pilger! Pilger! Finde deinen Weg!“ – Schreie.
Verstärker hoch droben peitschten einen blechernen Refrain hinaus:
„Find deinen Weg, mach Liebe mit Dem Wall,
Sei der Clown, der lernen wird,
Der Narr, der zurückkehren mag …“
Das Übrige vermochte er nicht zu verstehen. Es war ein Mummenschanz, und er war die zentrale Karikatur, ein einsamer, gar nicht
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