Die Oger - [Roman]
Meister Ostmir für gewöhnlich ausschenkte, wenn die Gäste nicht mehr in der Lage waren, zwischen gutem und schlechtem Wein zu unterscheiden. Er betrog die Gäste aber nicht, sondern berechnete auch nur die billigen Flaschen. Ihm kam es nur darauf an, den guten Wein nicht zu vergeuden.
Hagrim lauschte hier und da an den Nachbartischen, um die neuesten Gerüchte aufzuschnappen, als jemand mit einem Verband am linken Ohr die Taverne betrat. Hagrim erkannte ihn sofort wieder. Es war einer der Schläger, die in der Nacht vor den Tempeltoren dabeigewesen waren. Anscheinend hatte ihm ein Streifschlag das Leben gerettet. Er war nicht allein, hinter ihm schlich ein kleiner, übel aussehender Kerl her. Einer von der Sorte, die einem den Dolch in den Rücken rammte und dann wieder im Dunklen verschwand. Sie hielten direkt auf den Tresen zu und wechselten einige Worte mit Meister Ostmir, der zu allen ihm gestellten Fragen kräftig den Kopf schüttelte. Die Schankmaid hatte sofort begriffen und stellte sich so geschickt auf, dass sie Hagrim vor den neugierigen Blicken der beiden Schläger schützte.
In der Vergangenheit hatte er sich immer darüber gefreut, wenn eine Bedienung jung, gut aussehend und schlank war, aber in diesem Fall wäre ihm eine Ogerin lieber gewesen. Als ob sein Gedanke das Unglück herbeirufen konnte, tauchte hinter der jungen Frau der Kopf des Schlägers auf. Hagrim sprang auf und versuchte, durch die Küche zu fliehen, die seitlich an den Schankraum grenzte. Die beiden Schläger stürmten sofort hinterher und rissen dabei mehrere Gäste von den Stühlen. Geistesgegenwärtig stieß die Schankmaid den beiden Verfolgern ihr volles Tablett entgegen. Diese kleine Verzögerung reichte Hagrim, um seinen Häschern zu entkommen. Er rannte zur Küche und durch die Hintertür ins Freie. Mit einem Schlenker umrundete er das Gebäude und versuchte, zwischen den Leuten auf der Straße unterzutauchen. Seine Verfolger waren nur ungefähr fünfzig Schritt hinter ihm. Die alten Verletzungen waren zwar verheilt, aber zu seiner früheren Form hatte Hagrim noch nicht zurückgefunden. Damals wäre es ein Leichtes gewesen, zwei Männern zu entkommen. Momentan musste er sich damit begnügen, sie auf Abstand zu halten.
Immer wieder wechselte er urplötzlich die Richtung und bog in kleine Seitengassen ab, um danach zurück auf größere Straßen zu gelangen, die vielleicht belebter waren. Doch die Menschen stoben auseinander und ließen seine Verfolger ungehindert passieren. In Gedanken überlegte er sich immer wieder neue Strecken, um nicht aus Versehen eine Sackgasse zu erwischen, in der die beiden Meuchler ungestört ihren Auftrag erledigen konnten.
Aber alle Findigkeit half nichts, er wurde sie einfach nicht los, und sein pfeifender Atem verriet ihm, dass er das Spielchen nicht mehr lange durchhalten würde. Außerdem rannte er auf das Westtor zu, vor dem sich ein zweihundert Schritt großer Platz erstreckte. Dort würden ihm sein Alter, die fehlende Ausdauer und seine schlecht verheilten Verletzungen zum Verhängnis werden. Immer wieder rannte er an Menschen vorbei, die ihn verwundert anstarrten, aber seine Not nicht erkannten oder nicht erkennen wollten. Die allgemeine Neigung, sich für einen zerlumpten Bettler auf ein blaues Auge einzulassen, lag nicht sonderlich hoch.
Hagrim bog in die Weststraße ein. In einiger Entfernung konnte er die Lichter des Stadttores erkennen und zwei Stadtwachen, die davor patrouillierten. Er hatte noch die Möglichkeit, sich ihnen zu stellen, doch das bedeutete auch, Tarbur zu verraten. Am Rand des Platzes erkannte Hagrim eine Ansammlung von Planwagen, die dort abgestellt waren. Aus einigen der Wagen schien schwaches Licht, und leise Musik war zu hören. Zuerst dachte er an eine Karawane, die sich für den nächsten Morgen abfahrbereit machte, doch dann sah er die breiten Aufschriften an den hinteren Gespannen: Meister Mellik - König der Gaukler.
Hagrim rannte auf die Wagen zu und konnte in der Dunkelheit des Platzes seinen Vorsprung auf fast hundert Schritt ausbauen. Ohne abzubremsen, warf er sich zu Boden, schlitterte seitlich abgestützt unter das Fuhrwerk und suchte Schutz hinter den schweren Wagenrädern. Er sah seine Verfolger aus dem Schatten herannahen. Halb gebückt suchten sie nach dem entschwundenen Flüchtling.
»Heda! Auch für Bauerntölpel gibt's hier keine kostenlose Vorstellung«, drang eine resolute weibliche Stimme neben Hagrim aus der Dunkelheit hervor. Er konnte
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