Die Oger - [Roman]
Gegner mussten nahe heran, um ihn zu stellen. In der freien Natur sah das allerdings anders aus. Dort konnte ein Pfeil oder ein Bolzen das Aus bedeuten. Er war sozusagen Freiwild für jeden, der ihn als Gefahr oder Nahrung ansah. Wobei Letzteres eher unwahrscheinlich war, da Oger in der Nahrungskette recht weit oben standen.
Aber es ging nicht nur darum, gejagt und vielleicht getötet zu werden, viel wichtiger waren seine Augen für das tägliche Überleben. Das fing an mit der Suche nach Nahrung und dem Sammeln von Brennholz und endete nach einer schier endlosen Liste mit dem Finden eines Winterquartiers. Tarbur wusste keinen Ausweg aus seinem Dilemma, und er hatte auch die Hoffnung verloren, noch einen zu finden.
Unterdessen schlich Hagrim die schwere mehrstöckige Eichentreppe hinab ins Hauptschiff des Tempels. Er wollte versuchen, über eines der Hinterzimmer durch ein Fenster in eine Seitengasse zu gelangen. Durch die kleinen Fenster, die mit Szenen unterschiedlichster Heldentaten bemalt waren, konnte man am ehesten ungesehen entkommen.
Als Hagrim das feuchte Pflaster zwischen den zwei Häuserfronten betrat, war er sicher, dass niemand ihn gesehen hatte. Die Gasse lag im Dunkeln und war das Verbindungsstück zwischen dem Tempelplatz und der Straße der Händler, die sich quer durch die Stadt zog. Auf ihr würde er nicht sonderlich auffallen, wenn er nicht zu viele Fragen stellte oder auf jemanden traf, der es auf ihn abgesehen hatte. Er mischte sich einfach unter das nächtliche Treiben. Gestalten wie er waren hier keine Seltenheit. An jeder Ecke kauerten irgendwelche Bettler oder Trunkenbolde. Er machte sich nichts vor: Zur Zunft der Geschichtenerzähler gehörte er nicht mehr. Sein tägliches Auskommen erwarb er sich durch Diebstahl oder Bettelei.
Hagrim versuchte gar nicht erst, eine Schwachstelle an den Haupttoren der Stadt zu suchen. Nach den letzten Geschehnissen waren alle Wachen in Hochform. Momentan war nicht mit unbesetzten Posten oder Schlamperei zu rechnen, dafür würde der Hauptmann schon sorgen.
Es zog ihn an einen bestimmten Ort. Einen Ort, der, wenn es darum ging, eine Lösung für ein Problem zu finden, genauso gut war wie jeder andere; nur hier gab es überdies etwas zu trinken.
Als Hagrim die Tür zur Kupfergrotte öffnete, schaute er sich noch einmal um. Niemand schien ihm zu folgen. Mit gesenktem Haupt trottete er auf den Tresen zu.
»He du, hier drin wird nicht gebettelt oder geschnorrt«, schnauzte ihn Meister Ostmir an.
»Auch nicht für eine ganz außergewöhnliche Geschichte?«, entgegnete Hagrim und lupfte seine Kapuze gerade so weit, dass ihn nur der Wirt erkannte.
»Hagrim, bei den Göttern, was machst du hier? Du darfst dich nirgends sehen lassen. Ständig schleichen hier irgendwelche Schläger herein und fragen nach dir. Du musst aufpassen.«
Meister Ostmir schenkte schon ein Glas Rotwein ein, das er vorher auf Flecken überprüft hatte. Nicht, dass es für Hagrim von Bedeutung war, ob das Glas Flecken aufwies oder nicht, aber allein die Geste zeigte ihm, dass er behandelt wurde wie jeder andere Gast auch.
»Ich bin gleich wieder weg«, sagte er. »Ich setze mich nur einen Augenblick hinten in die Ecke und genieße den guten Tropfen. Dafür verspreche ich dir, wenn das hier alles vorüber ist, bekommst du die erstaunlichste Geschichte zu hören, die Osberg je erlebt hat.«
Hagrim wollte sich gerade abwenden, um seinen Platz aufzusuchen, da zupfte Meister Ostmir ihn am Ärmel.
»Ich weiß, ich erzähle nicht so gut wie du, aber ich habe auch eine schöne Geschichte für dich. Vor ungefähr einer Woche kam hier ein kleines Mädchen herein und suchte nach dir. Es war die Enkelin der alten Gerba, Cindiel, deine kleine Prinzessin.«
Hagrim war wie gebannt. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er musste erst schlucken, um seine Stimme wiederzufinden.
»Wo ist sie jetzt? Wie ist sie entkommen? Hat sie was gesagt?«
»So viel haben wir nicht gesprochen. Sie suchte einen Kapitän, der sie und einige Freunde einschiffen könnte.«
»Wohin wollte sie?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie Verwandtschaft im Süden des Landes. Ich habe sie nach Sandleg geschickt, zu Kapitän Londor. Das ist alles, was ich weiß.«
Hagrim zögerte einen Augenblick, ging dann aber doch zu seinem Tisch.
Hauptsache, sie ist diesen Monstren entwischt und in Sicherheit.
Er machte es sich auf seinem Stuhl in der dunklen Ecke bequem. Der Rotwein war ausgezeichnet, nicht der billige Fusel, den
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