Die Oger - [Roman]
Sterbenden zu helfen, und wir geben den Leuten die Gelegenheit, selbst zu entscheiden, wie sie den Rest ihres Lebens verbringen wollen.« Rator blickte zu Kruzmak, der mit den Achseln zuckte. Gemeinsam starrten sie auf den blutenden Stumpf.
»Gut, wir helfen. Zeit wird zeigen, ob richtig war.«
Rator begann, den Stumpf mit einem Lederband und einem Messergriff abzubinden. Cindiel legte die Hand auf Megors Bein und wirkte ihren Zauber. Schon nach kurzer Zeit verebbte der Blutstrom. Megor atmete flach, aber ruhig. Nun konnte man nur noch abwarten und hoffen.
Keiner wagte es, zu sprechen. Sie lauschten in die Stille, in der Hoffnung, ein Geräusch zu vernehmen, das ihnen Rettung verhieß.
Aber nichts war zu hören. Die Welt schien umhüllt vom ewigen Eis, das jede Bewegung hatte erstarren lassen.
Ein leises Schluchzen drang durch die Stille. Das kleine Mädchen neben Cindiel war die Erste, die die Hoffnung verlor. Cindiel nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. »Rebecca, du brauchst nicht zu weinen. Schon bald werden sie kommen und uns befreien. Sie sind bestimmt schon auf der Suche nach uns.«
Rebecca schaute auf. Tränen rannen über ihr Gesicht und tropften von ihren Wangen in den Schnee, ohne dass auch nur eine Spur von ihnen zurückblieb.
»Meine Mutter hat immer gesagt, wenn ich draußen im Schnee gespielt habe, soll ich nicht so lange an einem Fleck sitzen und mich mehr bewegen, sonst frieren meine Füße am Boden fest ... und dann kommen nachts die Eistrolle und nehmen mich mit in ihr Schloss, wo ich auf immer und ewig in den Hallen als Eisfigur stehen muss ... Cindiel?«
»Ja, was denn?«
»Ich spüre meine Beine nicht mehr.«
Cindiel schob Rebeccas Hose ein Stück hoch und fühlte ihre Wade.
Sie wandte sich Rator zu, blickte ihn an und sagte gedankenverloren: »Eiskalt.«
»Kannst du helfen?«, erkundigte sich Rator.
»Ja, das kann ich, aber sie wird nicht die Einzige bleiben, und ich weiß nicht, ob ich allen helfen kann. Ich könnte eure Hilfe gebrauchen.«
»Unsere Hilfe? Wie wir helfen?«
»Ihr könntet die Kinder auf den Schoß nehmen, damit sie nicht auf dem kalten Schnee sitzen müssen. Dann wärme ich nur dich und Kruzmak, und ihr wärmt uns Kinder.«
»Niemals!«
»Warum nicht?«
»Ihr Gefangene und Kinder von Hüttenbauern. Wenn herauskommt, alle lachen über uns.«
»Ich schwöre dir«, sagte Cindiel feierlich, »dass niemand je davon erfährt!«
»Kruzmak, was denkst du?«, fragte Rator.
»Du weißt, Kruzmak nie denken. Machen, was Rator denkt.«
Kruzmak hob die Hand und löste den Stachelhandschuh. Der Handschuh war eine Art Lederriemen, der um den Handrücken und den Daumen führte. Auf der Oberseite waren fünf lange Stacheln ins Leder genietet worden. Eine Nahkampfwaffe, die oft eher überflüssig war, da ein Faustschlag des Kolosses normalerweise schon ausreichte, jemanden ins Jenseits zu schicken.
Kruzmak ließ den Handschuh in den Schnee fallen und sagte: »Eistrolle ohne Schlösser.« Er drehte den Handrücken Cindiel und Rator zu. Deutlich konnte man die Erfrierungen darauf erkennen, die das Metall hinterlassen hatte.
»Wir machen«, sagte Rator entschlossen.
»Es wäre auch gut, wenn ihr die Rüstungen ablegen würdet. Das Metall leitet die Kälte in eure Körper.«
»Wir nehmen Kinder, aber Rüstung bleibt. Wir hier nicht nackt mit spielenden Kindern auf Bauch und singen Lieder.« Die ehrliche Entrüstung in seinem Ton zeigte Cindiel, dass sie ihn in diesem Punkt nicht umstimmen würde.
Die Kinder verloren rasch die Angst vor den Ogern. Für Rators Geschmack anscheinend zu schnell. Er zog ein grimmiges Gesicht, aber als Cindiels Zauber zu wirken begann, hatte er Mühe, das Unbehagen in seinem Ausdruck aufrechtzuerhalten.
Regelmäßig überprüfte Cindiel Megors Zustand, konnte aber keine Veränderung feststellen.
Nach etlichen Stunden waren die meisten eingeschlafen. Nur Rator und Cindiel waren noch wach.
»Warum hilfst du?«, fragte Rator leise und blickte auf Cindiel, die gerade Megors Atmung prüfte. »Wir haben euch entführt. Du nicht denken, wir böse?«
Seine Aussprache ließ darauf schließen, dass er länger über diese Frage nachgedacht hatte.
»Nein, ich glaube, dass ihr viel Böses getan habt, aber das heißt nicht, dass ihr von Grund auf böse seid. Menschen ziehen auch in den Krieg und töten andere, aber sie sind deshalb nicht immer schlecht. Ein guter Freund von mir hat immer gesagt, ob gut oder böse, das hängt vom Betrachter ab.
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