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Die Opferstaette

Die Opferstaette

Titel: Die Opferstaette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Dunne
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war eine ängstliche Taucherin.
    Ich ließ meinen Lampenstrahl über das Wrack wandern und staunte einmal mehr, wie das Meer die widerspenstigsten Materialien verändert. Auch wenn keine Tropffiguren aus Rost wie bei der Titanic von dem Schiff hingen, wurde es in etwas völlig anderes verwandelt und diente einem neuen Zweck. Organisches Material bedeckte es wie Raureif. Die Rumpfplatten waren von Entenmuscheln und Hunderten weißer Seesterne besetzt. Gelbe und rosa Anemonen umgaben die Bullaugen, eine stachlige Spinnenkrabbe bahnte sich einen Weg über Klumpen orangefarbener Schwämme, die eine Leiter einhüllten, eine Hecke aus leicht schwankenden Venusfächern besiedelte den Kiel auf ganzer Länge. Und die ganze Zeit sausten Fische in und aus Löchern und Spalten in dem künstlichen Riff.
    Meine Betrachtung wurde unterbrochen, weil Brian auf meine Flasche klopfte – man lässt sich unter Wasser leicht ablenken. Aber er wollte mich nicht ermahnen, sondern mir zeigen, was er im Strahl seiner Tauchlampe entdeckt hatte: einen riesigen Meeraal, der aus dem geräumigen Maul des offen liegenden Bugs der Arabella genau vor uns glitt.
    Er stieg wie eine Rauchfahne auf, dann verschwand er in das dunklere Wasser hinter dem Wrack. Brian fing meinen Blick auf und zeigte mir den erhobenen Daumen. Ich verstand
es so, dass wir jetzt zum Bug hinuntertauchen würden. Ich richtete meine Lampe nach unten, um zu sehen, wo wir in den Bug eintauchen würden, und erschrak, als ich einen Vorhang aus Seegras um die Öffnung sah. Ich mochte seine ledrige Umarmung nicht und dachte nicht gern daran, was sich in den wogenden Wedeln verbergen könnte. In dieser Tiefe hatte ich mit keinem gerechnet. Ich würde all meinen Mut zusammennehmen müssen. Angst ist in dieser Tiefe lebensgefährlich.
    Ich sah zu Brian hinüber und wartete darauf, dass er die Führung übernahm, aber er achtete nicht auf mich, sondern blickte in die Richtung, die der Meeraal eingeschlagen hatte. Er drehte sich zu mir und machte mir ein Zeichen, zu warten. Dann paddelte er kräftig mit den Schwimmflossen und war nach wenigen Sekunden hinter dem Bug verschwunden.
    Ich war verwirrt. Brian hätte nicht einfach so davonschwimmen dürfen. Es passte auch gar nicht zu ihm. War es ein Test für mich? Ich sah auf meine Uhr. Theoretisch lautet die Regel: Eine Minute warten, dann an die Oberfläche zurückkehren und den Taucher als vermisst melden. Ich schwamm langsam einen vollständigen Kreis und hielt nach oben, unten und allen Seiten nach einem Anzeichen von Brian oder seinen Luftblasen Ausschau. Ich war eine einigermaßen erfahrene Sporttaucherin – jedenfalls erfahren genug, um zu wissen, dass das Partnersystem nicht allzu verlässlich ist. Manche Taucher schwammen ihren Partnern vielleicht hinterher, andere trödelten einfach herum, bis sie zurückkamen. Aber ich wusste auch, dass es besser war, auf der sicheren Seite zu bleiben, selbst wenn ich mich dafür von Brian oder den anderen Kursteilnehmern im Boot verspotten lassen musste. Eine Minute später begann ich mit dem Aufstieg. Aber Brian kam nicht nach oben. Und obwohl eine Woche lang intensiv nach ihm gesucht wurde, fand man seine Leiche nicht.

    Die Kursteilnehmer und Tauchlehrer kehrten für den Rest des Kurses nach Schottland zurück, aber ich blieb. Brians Eltern waren angereist, und ich versprach ihnen, noch nicht aufzugeben – in meine Entschlossenheit, das Rätsel seines Verschwindens zu lösen, mischten sich Schuldgefühle, weil ich ihn allein zurückgelassen hatte. Ich stellte ein Freiwilligenteam aus ortsansässigen Tauchern zusammen, und wir setzten die Suche fort.
    Brian war neun Tage lang im Wasser gewesen, als ich ihn fand. Er trieb mit dem Kopf nach unten zwanzig Meter unter der Wasseroberfläche. Nur der in schwarzes Neopren gekleidete Oberkörper ragte aus den Schlingen eines weggeworfenen Fischernetzes. Es hatte einen mächtigen Knoten auf seinem Rücken gebildet, und von dort breitete es sich wie ein riesiger Umhang in die Dunkelheit unter ihm aus. Er schien es aus der Tiefe heraufzuziehen, als wäre es eine Art Herkulesaufgabe, die er erfüllen musste.
    Sein Körper war in Sichtweite des Wracks den halben Weg bis zur Oberfläche hinaufgetrieben. Wie hatten wir ihn an jenem Tag übersehen können? Wie hatten ihn die Suchteams übersehen können, die das Gebiet eine Woche lang durchforstet hatten?
    Ich vermutete, dass er sofort seine Tauchausrüstung abgeworfen hatte, als er sich in dem Trawlernetz

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