Die Opferstaette
den Sturm nicht
auf hoher See ausgesessen hat, anstatt an die Küste zu kommen.«
»Das ist gar nicht so rätselhaft«, sagte Mahon. »Er hat vermutlich in der Shannon-Mündung Schutz für die Nacht gesucht und ist zu weit nördlich eingebogen. Man kann sich vorstellen, wie die Sicht bei dem Sturm war.« Er überflog den Artikel.
Mir lag eine Frage auf der Zunge, aber sie nahm nicht recht Gestalt an.
Mahon klopfte auf das Schutzglas über dem Artikel. »Haben Sie den letzten Absatz gelesen?«
»Nein, so weit waren wir noch nicht gekommen«, erwiderte ich.
»Vielleicht hat das zu der Legende geführt, die ich gerade erwähnt habe.« Er gab mir den Rahmen und hielt den Finger auf die Stelle, wo ich anfangen sollte.
Ich las laut vor. »Die ersten Taucher, die in einen Teil der Kabine vordrangen, der auf dem Meeresgrund lag, fanden die Besatzung der Intrinsic im Tod zusammengedrängt vor. Fische und riesige Aale schwärmten darüber und taten sich an ihnen gütlich …« Ich hielt inne. Etwas, das ich verdrängen wollte, hatte einen Weg an meiner Abwehr vorbei gefunden.
»Igitt.« Kim verzog das Gesicht.
Ich holte tief Luft und fuhr fort. »Es war ein derart grausiger Anblick, dass sich die Männer weigerten, noch einmal hinunterzugehen, bis Mr. Dean selbst hinabtauchte, um es sich anzusehen. Aber als er wieder nach oben kam, versicherte er ihnen, sie müssten sich getäuscht haben. Und tatsächlich wurden in der Folge weder Leichen gefunden, noch wurden jemals welche an Land gespült.«
»Wie merkwürdig«, sagte Kim.
»Möchte noch jemand etwas trinken?«, fragte Costello.
»Wir sollten lieber gehen, Kim, oder?« Sie hielt mich hoffentlich nicht für unhöflich, aber ich wollte weg.
»Ja, du hast recht. Es ist ein ganzes Stück bis nach Hause.«
»Wo wohnen Sie?«, fragte Mahon.
Sie beschrieb, wo ihr Cottage lag, und erklärte, ich hätte meinen Wagen dort gelassen.
»Ich muss Senan sowieso in Kilkee absetzen, wenn Sie wollen, fahre ich Sie nach Hause.«
Wir dankten ihm, und als wir aufbrachen, fragte mich Mahon, wo ich wohnte. Dann erwähnte er den freiliegenden Muschelhaufen, der mich interessieren könnte, und fügte an, falls das Wetter zum Tauchen zu schlecht sei, würde er mich am nächsten Morgen im Hotel abholen, und wir könnten ihn uns zusammen ansehen.
Ich murmelte eine höfliche, wenngleich vage Erwiderung, aber sie reichte offenbar, um ihn annehmen zu lassen, ich sei interessiert. Aber es war nicht der Muschelhaufen, der mich an diesem Abend auf der Rückfahrt zum Hotel beschäftigte.
5
F ünfzehn Jahre zuvor war ich vor der Isle of Man zum Wrack des Küstenfrachters Arabella getaucht. Wie die Intrinsic war die Arabella von Liverpool gekommen, als sie sank. Aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Die Arabella war mit einer Fracht Souvenirkeramik anlässlich der Krönung von Königin Elizabeth II. auf dem Weg nach Belfast. Es war das Jahr 1953, und das Schiff war gesunken, nachdem es im Nebel mit einem anderen Handelsschiff zusammengestoßen war. Das Wasser drang in den Bugabschnitt, der Frachter sank mit der Nase voran, und als es sich in den sandigen Meeresgrund bohrte, brach der beschädigte Bug ganz ab. Die Ladung ergoss sich auf den Meeresboden, während das Schiff sich auf die Backbordseite legte. Bald brachen der Steuerbordrumpf und die Decks dazwischen ein und rutschten nach vorn, sodass die gesamten Deckaufbauten wie ein Pappkarton in dieselbe Richtung gefaltet wurden.
Da es keine starken Strömungen gab und die Arabella in leicht zugänglichen dreißig Metern Tiefe lag, wurde sie schließlich dazu benutzt, angehende Unterwasserarchäologen im Wracktauchen auszubilden.
Ich meldete mich nach meinem Diplom zu dem Kurs an. Brian Pender war mein Tauchlehrer, und es war unser letzter Tauchtag, als er verschwand.
Sechs Taucher waren bereits paarweise entlang einer am Wrack verankerten Leine nach unten gestiegen, waren in den
Bug vorgedrungen und wohlbehalten zum Boot zurückgekehrt. In unserem Kurs wurde häufig Luft durch Schläuche von der Oberfläche geatmet, aber innerhalb des Wracks tauchten wir mit Flaschen. Brian und ich stiegen als Letzte hinab. Während ich über dem Rumpf entlangschwamm, blieb er direkt hinter mir – die angemessene Position für einen Tauchlehrer. Er war jünger als ich, aber ich hatte ihn in den vergangenen Tagen als Profi durch und durch erlebt und hätte ihm mein Leben anvertraut. Ich brauchte das Gefühl, ihm so trauen zu können, denn ich
Weitere Kostenlose Bücher