Die Opferstaette
verfing, aber als er sich befreien wollte, hatte sich das Netz um ihn gewickelt und verhindert, dass er aufstieg. Während ich sorgsam darauf achtete, dass ich mich nicht selbst verhakte, näherte ich mich ihm von vorn und sah, dass seine Maske fehlte. Ich rechnete damit, dass sich sein hübsches Gesicht in eine groteske Fratze verwandelt hatte, aufgebläht durch den Verwesungsprozess. Deshalb schloss ich meine Augen für einen Moment, ehe ich sie wieder öffnete und die Taschenlampe einschaltete. Und genau in diesem Moment hob Brian den Kopf.
Ich fuhr mit einem Ruck zurück, während ein Meeraal unter seiner Brust hervorglitt, wo er Schutz gesucht hatte. Seine Flucht hatte die Kopfbewegung verursacht. Und jetzt folgte der nächste Schock. Brians Kapuze bedeckte noch immer seinen Kopf, sodass der fleischlose Schädel an eine mittelalterliche Darstellung des Todes erinnerte. Doch die Knochen waren noch nicht gänzlich abgenagt. Eine kleine Flotte winziger Fische schwärmte noch um sein Gesicht herum – die Unterwasserentsprechung eines Fliegenschwarms.
Ich dachte, ich hätte das Schlimmste gesehen, was das Meer anrichten konnte, aber erst, als wir Brians Leiche an Land gebracht und aus dem Netz gewickelt hatten, entdeckten wir, dass seine gesamte untere Hälfte fehlte. Und auch im Rest seines Tauchanzugs war nicht mehr viel übrig. Am Ende konnten Brians Eltern dank meiner Entschlossenheit, ihn zu finden, nicht viel mehr als einen Schädel in den Sarg legen, und mich hielt es für alle Zeiten vom Tauchen ab.
6
A ls mich Mahon bei meinem Hotel absetzte, ging ich direkt in den Speisesaal und bestellte ein frühes Abendmahl – seit einem aus Tee und Toast bestehenden Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen. Bei einem Blick auf die Bucht sah ich, dass der Wind nachgelassen hatte und heller, wolkenloser Himmel die einsetzende Dämmerung verzögerte.
Danach ging ich auf mein Zimmer, duschte und wickelte mich in meinen Bademantel, entschlossen, mich früh mit einem Buch ins Bett zurückzuziehen. Aber erst holte ich meinen Laptop aus dem obersten Schrankfach. Es war mehr als vierundzwanzig Stunden her, seit Kim und ich im Long Dock mit Theo Mahon und Senan Costello geredet hatten. Während ich die Kamera mit dem Notebook verband, beschloss ich, sie anzurufen, um zu hören, wie sie mit dem Briefbeschwerer vorankam, den ich in Auftrag gegeben hatte, und um ihr von dem grausigen Fund in dem Muschelhaufen zu erzählen. Ich geriet an ihren Anrufbeantworter und hinterließ eine Nachricht. Ich nahm an, sie arbeitete – sie hatte mir erzählt, dass es im Atelier keinen Telefonanschluss gab, da es sie nur stören würde und jede plötzliche Bewegung, wenn sie ihre fragilen Glasgebilde zusammensetzte, die Arbeit von Stunden vernichten konnte.
Nachdem ich die Bilder auf den Computer überspielt hatte, wählte ich die besten aus, um sie der Polizei zu schicken, dann öffnete ich mein Postfach und tippte die Adressen ein, die mir Mahon gegeben hatte. Bei einer tauchte der Name hynes auf –
offenbar der Sergeant in Kilkee. Der andere war ivor.nolan , der Detective in Ennis, der Hauptstadt der Grafschaft. Ich verfasste ein kurzes Anschreiben und wartete dann, bis ich das beruhigende Rauschen hörte, mit dem die Mail samt Anhang in den Cyberspace abhob. Ich hatte bereits bemerkt, dass neue E-Mails eingetroffen waren, und ging sie rasch durch, entschlossen, keine zu öffnen, die etwas mit meiner Arbeit zu tun hatten. Aber neugierig war ich doch.
Es gab nur eine, die ich lesen wollte. Sie war von Peter Groot.
Ich weiß, ich habe dir dringend empfohlen, den Kontakt mit der Außenwelt für eine Weile abzubrechen, aber ich schreibe dies trotzdem. Hier ist es jetzt Frühling, und der Bleiwurz, den ich für meinen Fensterkasten gekauft habe, beginnt zu blühen. Ich habe ihn gepflanzt, weil er mich an deine Augen erinnert, aber lieber würde ich tatsächlich in sie schauen. Würdest du in Erwägung ziehen, über Weihnachten oder Neujahr hierherzukommen? Ich weiß, ich bin ziemlich direkt, aber Subtilität ist nicht mein Ding. Pete
PS: Bin selbst ein paar Tage nicht erreichbar. Falls man nie wieder etwas von mir hört, vermache ich dir hiermit meinen Blumenkasten.
Ich lächelte und sah auf die Uhr. Das Angenehme an Südafrika ist, dass der Zeitunterschied nur eine Stunde beträgt. Aber da er irgendwo unterwegs war, hatte es wenig Sinn, ihn anzurufen, deshalb schickte ich ihm eine kurze Mail.
Habe nichts dagegen, Weihnachten in
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