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Die Opferung

Die Opferung

Titel: Die Opferung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Masterton
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- vieles erinnert mich daran: meine Träume, Schatten, Spiegelbilder, die man nur flüchtig sieht, ein kaum hörbares Flüstern. Es genügt der Blick auf einen viktorianischen Stuhl mit hoher Rückenlehne bei einem Antiquitätenhändler, ein bestimmter grau getönter Herbsthimmel, ein brauner Teppich, der Geruch von Staub und Möbelpolitur aus Bienenwachs. In dem Moment, in dem Dennis Pickering und ich das Wohnzimmer betraten, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass wir in eine Zeit zurückgereist waren, in die wir nicht gehörten. Und ich erkannte, dass das Grauen, dem wir gegenüberstanden, keine Geister oder sich bewegende Fotos waren oder Produkte unserer überanstrengten Fantasie, sondern reale Personen, die lebten und atmeten und die vom Geruch der Hölle umgeben waren.
    Der junge Mr. Billings stand am weitesten von uns entfernt, seinen Arm hatte er halb erhoben. Er war viel größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und sein schwarzer Hut und sein schwarzer Frack waren viel besser gearbeitet. Doch seine Wangen waren faltig, seine Augen waren blutunterlaufen, und er sah aus wie ein Mann, dessen innerer Zusammenbruch sich unerbittlich auf seinem Gesicht manifestiert hatte.
    Kezia Masons Bild an der Wand der Fortyfoot-Kapelle wurde ihr nicht gerecht. Sie war zierlich und zart, fast schon hübsch. Vielleicht sogar mehr als hübsch, auch wenn sich in ihren Augen eine sonderbare, deplatziert wirkende Wildheit zeigte, die sogar den forschesten Mann erschreckt hätte. Auf jeden Fall erschreckte sie mich. Ihre Haare waren unglaublich. Sie waren von einem leuchtenden Rot, und sie standen so ab, als wären sie elektrisch geladen. Um ihre Schultern hatte sie ein locker gewebtes Tuch aus ungebleichter Wolle gelegt, und sie trug ein weites Kleid aus sehr feinem weißen Schleier, der hier und da mit Augen, Händen und Sternen bestickt war. Das Kleid war so durchsichtig, dass ich ihren dünnen, fast schon magersüchtigen Körper sehen konnte, der stramm in Schnüre und Bandagen gewickelt war. Ihre Füße waren nackt und schmutzig, blaue Adern hoben sich deutlich von der fahlen Haut ab.
    Sie zischte, als sie uns sah.
    Was mich aber regelrecht erstarren ließ, war mein erster ungehinderter Blick auf Brown Jenkin. Er war das Rattending von unbekannter Herkunft, das in den Straßen der Londoner Docklands zur Welt gekommen sein konnte. Oder das ein verheerender genetischer Unfall von Billings und Kezia Mason war. Oder einfach nur aus einer Ratte entstanden, und das jetzt als Monstrosität vor mir stand, bucklig, eine Parodie auf einen menschlichen Knaben, auf ein Tier, das ein wenig süßlich, aber nach Verwesung roch.
    Brown Jenkin maß kaum 1,20 Meter, sein Kopf war schmal und lief spitz zu, so wie bei einem Nagetier, glich aber mehr einem grotesk in die Länge gezogenen menschlichen Gesicht als dem einer Ratte. Die Augen waren weiß, sogar die Iris war weiß. Die Nase war gespalten wie bei einer Ratte, doch ihre großen Nasenlöcher, die die Schleimhäute freilegten, machten sie einem Menschen ähnlicher als einem Tier. Sein Mund war geschlossen, die Lippen hatten eine gräulichschwarze Färbung, und ich konnte zwei scharfe Zahnspitzen erkennen, die unter der Oberlippe hervorlugten.
    Er trug ein schmutziges weißes Halsband, sein Hals war mit ebenso verdreckten Bandagen umwickelt. Sein missgestalteter Körper war in einen langen Mantel oder eine Jacke aus abgewetztem braunen Samt gekleidet, dessen Vorderseite mit Suppe und Ei und unzähligen anderen Essensresten übersät war. Aus den viel zu langen Ärmeln ragten weiße Hände mit langen Fingern heraus, die zwar menschlich aussahen, deren Nägel aber schwarz und gekrümmt waren, so wie die Klauen einer Ratte. Unter dem Saum des Mantels, der auf dem
    Teppich hing, konnte ich ein Paar schmale Füße erkennen, die wie der Hals der Kreatur mit schmutzigen weißen Bandagen umwickelt waren.
    Brown Jenkin hatte seine Klauen durch den Latz des kleinen Mädchens gebohrt und hielt es an seinem ausgestreckten Arm so in die Höhe, dass ihre Füße in der Luft baumelten. Das Mädchen selbst war starr vor Schreck, ihre Fäuste zusammengeballt, der Kopf eingezogen und das Gesicht bleich. Ihr kupferbraunes Haar war ordentlich geflochten worden, aber mittlerweile war einer der Zöpfe aufgegangen und bedeckte halb ihr Gesicht, was sie noch verrückter und verzweifelter aussehen ließ.
    Einen Augenblick lang erstarrte die Szenerie und wirkte wie ein Foto, auf dem wir alle dastanden und uns

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