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Die Orangen des Präsidenten

Die Orangen des Präsidenten

Titel: Die Orangen des Präsidenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbas Khider
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lachend los: »Er hat Angst! Sein Gesicht ist blass geworden!« Als ihre Eltern mitbekamen, worum es ging, schimpften sie Rosa ordentlich aus.
    Blutsauger waren Jacks Eltern nun wahrhaftig nicht. Sein Vater, ein angesehener Geschäftsmann, verkaufte Autos. Er besaß ein großes Autohaus im Zentrum der Stadt. Die Mutter kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Ihr Haus war nicht so bescheiden wie unseres. Es war genauso groß wie das Autohaus, mit einem noch größeren Garten. Mitten in diesem Garten stand eine Hollywoodschaukel. Oft schaukelte ich dort mit Rosa oder Jack. Manchmal überkam mich der Neid, weil Jack ein Fahrrad besaß, einen eleganten Anzug und ein eigenes Zimmer mit allen möglichen Spielen. Ich dagegen verfügte über keinerlei außergewöhnlichen oder gar beneidenswerten Besitz. Doch diese Weihnachten entdeckte ich einen ganz individuellen Reichtum an mir. Einen Reichtum, den Jack nicht hatte und niemals haben würde: eine Mutter, die noch nie in ihrem Leben Blut getrunken hatte.

Fünftes Kapitel
Gefängnisalltag
1989–1990
    Hinter der Sonne
ist in der irakischen Umgangssprache die Bezeichnung für Gefängnis, die treffendste Beschreibung für diese dunkle Seite der Welt. Die Sonne sah ich tatsächlich nicht mehr. Von Anfang an musste ein Gefangener im Reich
Hinter der Sonne
bestimmte Regeln erlernen und befolgen, um zu überleben: Regeln fürs Essen, fürs Scheißen und sogar Regeln fürs Schlafen. Und diese Schlafregeln waren nicht einfach.
    Wegen des Hungers, der Angst und der Übermüdung war das Schlafen an sich schon schwierig. In den ersten Tagen konnte ich meinen Kopf einfach auf den Boden legen und mich irgendwo anders hinträumen: auf die Flügel einer Taube, auf das Dach, ins Taubencafé, in die Schule, zu den Freunden oder auf die Couch in meinem Zimmer. Das Schlafen war wie eine Art Bewusstlosigkeit. Ich lebte zwischen zwei Welten. Wenn ich aufwachte und die blassen Gesichter der Mitgefangenen oder die harten Gesichter der Wärter und Verhörpolizisten erblickte, schloss ich die Augen noch einmal und kehrte in meine andere Welt zurück.
    Richtig schlafen konnte ich selten. Ich lag ganze Nächte wach, weil ich die andere Art von Schlaf erst lernen musste, nicht auf weichen Matratzen, sondern auf einem rauen nackten Betonboden. Dieser kalte Beton bohrte sich in meine Knochen. Hände aus Eisen drückten sich in mein Fleisch und schälten die Haut ab.
    Der harte Boden war aber nicht das einzige Schlafhindernis. Die Zelle war viel zu eng für zwanzig Männer. Wenn wir schlafen wollten, mussten wir uns eng aneinanderpressen.Außerdem schnarchten einige Gefangene, andere furzten oder sprachen laut im Schlaf, und das Geschrei der Neulinge drang fast jede Nacht aus der Folterkammer der Untersuchungshaft an unsere Ohren.
    Doch das war noch nicht alles. Wegen der Feuchtigkeit, der fehlenden Sonne und des Schmutzes waren ganze Bataillone von Wanzen in unseren Kleidern zu Gast. Sie waren richtige Schlafverderber. Erstens aufgrund ihrer Überzahl und zweitens wegen ihrer Nachtaktivität. Sie bohrten sich wie Dornen in unsere Haut mit ihren stechenden und saugenden Mundwerkzeugen. Dabei bevorzugten sie hauptsächlich die engen Winkel des Körpers: zwischen den Schenkeln und unter den Achseln. Der ständige Juckreiz konnte einen fast in den Wahnsinn treiben. Später tauchte noch eine andere, nicht minder lästige Sorte von Ungeziefer auf: die Krätzmilbe. Diese eigenartigen Geschöpfe waren extrem hart. Man konnte sie nicht wie die Wanzen jagen, weil sie sich unter die Haut gruben, um dort gemütlich zu wohnen. Sie saugten Blut, wann immer sie wollten. Jedes Mal wieder hatte ich den sehnlichen Wunsch, sie einfach wegzukratzen, aber die Grabtierchen waren fast unerreichbar. Sie bedienten sich meiner Haut als Decke oder Schutzkleidung. Und dort legten sie auch ihre Eier ab. Wenn einer die Krätze hatte, mussten wir uns einen ganzen Tag lang splitterfasernackt in der Zelle behandeln lassen. Zuerst wurden uns sämtliche Körperhaare abrasiert, und dann mussten wir uns von oben bis unten mit einer speziellen Creme einschmieren.
    Der erlösende Schlaf kam trotzdem nur selten. Doch letztlich gewöhnte man sich an alles. Irgendwann konnte ich in jeder Lage die Augen schließen. Aber wenn ich dann endlich eingeschlafen war, wünschte ich mir im Traum umso mehr, wieder aufzuwachen, um gerettet zu werden. Aus den unzähligen Händen der unzähligen Kreaturen, die mich in meinen unzähligen Albträumen

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