Die Orangen des Präsidenten
Sicherheitspolizei selbst über die einzigartige Dhalal-Bewegung informieren wollte. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Doch immer, wenn wir Wanzen jagten, dachten wir an ihn. Er war irgendwie ein ziemlich komplizierter Mensch. Von dieser Sorte gab es viele unter den Gefangenen. Einzigartige, von denen keiner so recht wusste, ob sie durchgedreht oder einfach nur keine normalen Geschöpfe waren.
Beten und Fasten waren eine andere Beschäftigung. Viele Gläubige brachten die Zeit nur mit ihren Gebeten zu. In der Nacht, wenn sie nicht schlafen konnten, murmelten sie zahllose Gebete vor sich hin, bis sie völlig erschöpft waren. Einige kamen auf die Idee zu fasten. Sie aßen und tranken den ganzen Tag nichts und brachen dann abends ihr Fasten. Sie versammelten sich, bildeten einen Kreis, legten ihre Brotstücke in die Mitte und feierten. Zwei Gefangene begannen, den Koran auswendig zu lernen. Sie baten jeden, der eine Sure kannte, diese für sie an die Wand zu schreiben. Hasan hatte eine ganz besondere Beschäftigung: Schweigen. Er sprach kein überflüssiges Wort. Er hockte da und starrte stundenlang die Wand an, immer auf dieselbe Stelle. Er war sozusagen ein freiwilliger Stummer. Obwohl er mit mir in einer Zelle war, wusste ich gar nichts über ihn.
Und ich? Ich jagte Wanzen, und meine zweite Beschäftigung wurde bald das Lesen, und zwar alles, was die anderen Gefangenen an die Wände geschrieben hatten. Ich hättegern Bücher gehabt, aber so etwas existierte in diesem Leben nicht. Später begann ich selbst, die Wände zu beschreiben, Wörter und Sätze, die ich für Gedichte hielt. Adnan lachte mich aus und spöttelte: »Welche Gemeinsamkeiten mögen Schreiben und Wanzenjagen wohl haben? Unterhaltung oder körperliche Ertüchtigung?«
Sechstes Kapitel
Abschied von Babylon
1988
Es gibt Tage und Nächte, in denen nichts passiert, rein gar nichts außer der Normalität. Und es gibt andere, in denen so viel geschieht, dass man sie niemals mehr vergessen wird. Und der Tag der Party war einer dieser unvergesslichen Tage.
Es war August. Mutter wollte nach Bagdad, um die Al-Kadhum-Moschee zu besuchen. Sie fragte mich, ob ich es schaffen könne, allein zu Hause zu bleiben. Ich antwortete selbstbewusst: »Sicher. Ich bin siebzehn. Ein erwachsener Mann.«
Sie lächelte: »Dann bin ich glücklich! Ich bleibe nur drei Tage.«
Am Tag ihrer Abreise beschloss ich, meine Freunde zu einer Geburtstagsparty bei mir zu Hause einzuladen. Eigentlich lag mein Geburtstag bereits drei Monate zurück. Aber ich wollte die Abwesenheit meiner Mutter ausnutzen. Die Party sollte am nächsten Abend stattfinden. Alle Gäste waren Christen aus unserem Viertel, die ich durch Jack kennengelernt hatte.
Am Tag der Party kamen noch vier Jungen und zwei Mädchen dazu, die alle unsere Schule besuchten. Es sollte eine Party mit Alkohol werden. Zumindest hatte ich mir das vorgenommen. Deswegen lud ich auch keine muslimischen Freunde ein. Jack und Rosa brachten vier Flaschen Wein undmehrere Dosen Bier mit. Ich besorgte Snacks und Knabberzeug. Rosa schob eine Kassette in den Rekorder. Rockmusik. Ich hatte damals das Wort Rock noch nicht gehört.
»Es heißt eigentlich Rock ’n’ Roll«, erklärte Rosa. »Total beliebt im Westen.«
Ich kannte eigentlich nur arabische Musik, englische hörte ich bloß bei Rosa und Jack. Diese Musik ist sehr hektisch, dachte ich zuerst. Nach zwei Dosen Bier aber stand ich mitten im Wohnzimmer und imitierte die Tanzfiguren der anderen: Kopf hin und her schütteln und mit den Füßen auf den Boden stampfen.
Das Bier schmeckte zuerst ziemlich bitter, fast ungenießbar. Die zweite Dose war aber schon erträglicher. Die drei Mädels fingen mit dem Wein an. Dann landeten sie bei uns auf dem Sofa und tranken ebenfalls Bier. Eigentlich hatte ich gar nicht sonderlich viel getrunken, ich glaube, nur vier oder fünf Dosen Bier. Trotzdem drehten sich die Zimmerwände um mich herum. Immer schneller, wie in einem Karussell. Die anderen hatten noch mehr getrunken als ich, aber sie wirkten irgendwie ruhiger. Sie lachten jedes Mal, wenn ich mit einem von ihnen redete. Trotzdem war ich gut drauf, als Rosa mich ins Bad mitnahm, meinen Kopf über das Waschbecken beugte und mir Wasser über den Kopf laufen ließ. Danach wollte ich nur noch tanzen.
Dann erinnere ich mich an nichts mehr. Ein vollkommener Blackout. Am nächsten Morgen erwachte ich mit schwerem Kopf, streckte die Arme aus und spürte etwas Weiches neben mir. Ich
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