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Die Orangen des Präsidenten

Die Orangen des Präsidenten

Titel: Die Orangen des Präsidenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbas Khider
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unzählige Male gnadenlos folterten.

    Irgendwann hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Die Sonne, an der man die Tageszeiten hätte ablesen können, sahen wir nicht. Kein noch so kleines Loch in den Wänden, damit sie zu uns hätte durchscheinen können. Von einer Uhr ganz zu schweigen. Nur das Licht der Glühbirne fiel wie ein sandfarbener, staubiger Strahl auf uns nieder.
    Die Zeit konnten wir nur erahnen. Wenn sich die Türen für den Spaziergang öffneten, wussten wir, der Vormittag war da. Den Mittag oder Nachmittag erkannten wir daran, dass das Brot kam. Die Nacht freilich war noch leichter zu erkennen. Wir hörten fast in jeder Nacht Schreie, die vermutlich aus der Folterkammer zu uns drangen. Das Orchester der Nacht, das sich einem mit scharfen Instrumenten ins Herz grub und den Körper der Zuhörer erzittern ließ.
    Kein Zeitgefühl, Hunger, Schlafstörungen, Wanzen, Krätzmilben, Hautkrankheiten, die seltsame Kälte des Gefängnisses … All dies bot uns eine fast willkommene Abwechslung, wenn man unser eintöniges Leben betrachtete. Alles war verboten. Bücher oder Zeitungen, Stifte, Spiele. Jeden Abend saßen wir auf dem Zellenboden, zogen unsere Kleider aus und jagten das lästige Ungeziefer. Die Jagd bot zusätzlich Anlass zu Redeschlachten.
    »Ich habe schon zehn Stück.«
    »Ich zwanzig.«
    »Mann! Ihr Blut stinkt wie deins!«
    »Ganze Wanzenvölker habe ich schon erledigt.«
    »Wir sind alle Mörder – aus der Sicht einer Wanze«, dozierte ironisch der 27-jährige Dhalal, der die Wanzen nicht nur tötete, sondern zuvor folterte. Er nahm immer zwei Wanzen und sperrte sie in eine kleine Plastiktüte. Dann schaute er sie stundenlang an, redete mit ihnen und beschimpfte sie manchmal bösartig. Er ließ sie in ihrem Plastikgefängnis, bis ihre braune oder schwarze Farbe verblasste. Danach holte er sie heraus, legte sie auf seinen Fingernagel und zerdrückte sie fest mit dem Daumen der anderen Hand. Aber es sprang keinBlut aus ihnen heraus, nur eine klare Flüssigkeit, wie Wasser. Er verabschiedete sich schließlich von ihnen mit einem selbst gedichteten Nachruf:
    »Oh, ihr einzigen Lebenden, einzigen Glücklichen, ich umarme euch. Ich bin euer Bote, eure Farbe, euer Zeichen. Im Grab ist man nie tot. Der tot ist, ist der, der nicht einmal den Tod umarmt hat. Der immer atmet. Wie ein Stein auf dem Weg. So viele Tote, die keine Gräber haben. Die nicht wissen, dass sie tot sind. Die lebendigen Leichen sind überall. Seht, wie tot sind die Kinder Adams. Oh, ihr einzigen Lebenden, einzigen Glücklichen, ohne unser Blut seid ihr gar nichts!«
    Dhalal war einmalig. Keiner hielt ihn für normal. Wenn er redete, benutzte er unzählige Fremdwörter und philosophische Fachbegriffe. Auch seine Anklage war ungewöhnlich: Mitglied der Irakischen Existenzialismusbewegung. Keiner von uns hatte je davon gehört. Er kam aus der Gegend Suq-Al-Shjuch – Basar der Herren –, die etwa dreißig Kilometer von Nasrijah entfernt liegt. Dort soll er mit noch vier Freunden, die an der Universität Französisch studierten, Werke von Sartre, de Beauvoir und Camus gelesen und sich in ihre Ideen verliebt haben. Er kam dann mit seinen Freunden auf die Idee, eine Bewegung zu gründen, die den Existenzialismus als Basis für politisches Handeln propagierte. Sie wollten die Regierung stürzen und eine neue Gesellschaft aufbauen, die keine Staatsführung mehr brauchte, sondern sich selbst regierte. Jeder sollte Bürger und Präsident zugleich sein. Motto der Bewegung: Existenz des freien Willens. Sie wurden aber von der Polizei entdeckt, weil Dhalal darüber mit jedem, den er kannte, sprach. Seine Freunde verschwanden spurlos. Und nun saß er mit mir in derselben Zelle. Keiner von uns verstand, was er tatsächlich wollte oder mit seiner »Existenz des freien Willens« meinte. Einmal, nachdem er eine Wanze getötet hatte, sagte er zu mir: »Ich weiß nicht, was die Irakische Existenzialismusbewegung überhaupt bedeutet oder was sie tun könnte. Ich weiß nureines: Ich will etwas anderes, nichts Religiöses oder Kommunistisches.«
    »Darf ich fragen, warum du immer genau zwei Wanzen in deinem Plastikgefängnis hast? Warum nicht nur eine oder mehrere?«
    »Das hab ich doch grade zu erklären versucht. Sie sind meine beiden Feinde, der Islam und der Kommunismus. Ich foltere sie.«
    Eines Tages wurde das Ungeziefer vor Dhalal gerettet. Er wurde nämlich verlegt. Man sagte, nach Bagdad in die Sicherheitsbehörde, weil sich der Boss der

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