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Die Orangen des Präsidenten

Die Orangen des Präsidenten

Titel: Die Orangen des Präsidenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbas Khider
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ich monatelang gewartet!« Er fiel auf die Knie, legte seine Stirn auf den Boden und begann, ein Gebet zu sprechen. Auch die anderen alten Häftlinge sprangen auf, als sei ein Djinn in sie gefahren, und fassten sich an den Händen wie Menschen, die sich zum ersten Mal begegneten. Einige umarmten und küssten sich wie junge Verliebte. Sie liefen und riefen durcheinander wie eine Horde wilder Schimpansen im Dschungel. Selbst der verschwiegene Hasan, der seit Monaten so stumm wie die Wände gewesen war, lachte aus vollem Hals. Seine Stimme klang durch die vielen Monate der Stille brüchig, doch unter Husten und Räuspern sprach er: »Gott hat uns noch nicht vergessen!« Und aus seinen winzigen braunen Augen kullerten Tränen der Überwältigung.
    »Was ist mit euch los? Wessen Geburtstag zum Teufel?«, fragte ich, weil ich nicht verstand, warum sich alle plötzlich so freuten.
    »Keine Ahnung!«, antwortete Ahmad, der die anderen ebenfalls mit verwirrten Blicken musterte.
    »Ja, was glaubst du denn? Sicherlich nicht der von Richard Löwenherz oder Salah Al-Din!«, spottete Dahlal, der es sich auf dem harten Zellenboden bequem gemacht hatte und ihn so zart streichelte, als sei er die Haut seiner Geliebten. »Es ist der Geburtstag unseres Führers!«
    »Was? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Saddams Geburtstag?«, stieß ich angewidert hervor.
    »Gibt es etwa einen anderen Führer in diesem Lande? Alles Gute, alles, alles Gute, mein Freund!«, beglückwünschte er mich wie von Sinnen.
    »Ich kapiere gar nichts mehr! Seid ihr plötzlich übergeschnappt? Habt ihr einen Lagerkoller oder hat euch die Mangelernährung das letzte bisschen Hirn zerstört? Saddam hat unser Leben in eine Hölle verwandelt! Ihr Idioten! Noch ein Wort und ich schlage euch die Fresse ein!«
    »Komm, Dahlal, hör auf, ihn zu verarschen und erzähl ihm endlich, was los ist!«, erwiderte Adnan beschwichtigend.
    »An diesem Tag öffnen sich alle Pforten des Himmels«, posaunte Dahlal weiter, als habe er Adnans Aufforderung völlig überhört. »Halbnackte Engel, behangen mit Zigeunerschmuck, werden wild und willig durch die Zellen tanzen und sich uns hingeben wie die Jungfrauen im Paradies …«
    »Höchstens deine Hirnzellen tanzen wild und willig, du Idiot«, beschimpfte Adnan Dahlal, und alle Mitgefangenen brachen in Gelächter aus. Dann wandte er sich mit einem versöhnlichen Blick an mich und Ahmed: »Dann erkläre ich es euch eben. Also, der 28. April ist tatsächlich Saddams Geburtstag und der wichtigste Tag im Leben jedes politischen Häftlings im Irak. In der Vergangenheit wurde an diesem Tag fast immer eine Amnestie für alle politischen Gefangenen erlassen. Wir sehnen diesen Tag also schon seit Monaten herbei. Er ist unsere Chance, hier lebend rauszukommen …«
    Es verschlug mir die Sprache, und ich fühlte mich wie betäubt. Die ganze Nacht saß ich stumm an meinem Platz und starrte ungläubig vor mich hin. Sollte das etwa wahr sein? Sollte ich daran glauben können? Ich wünschte mir, einfach die Augen schließen und mich ohne weiteres Nachdenken wie die anderen an der Freude berauschen zu können, doch obwohl ich glücklich und hoffnungsvoll sein sollte, verkrampfte ich mich vor Angst. Ich hatte jeden aufkeimendenFunken Hoffnung, der mich in den vergangenen Monaten angefallen hatte wie ein tollwütiges Tier, so lange unterdrückt wie möglich. Sie war mir lächerlich und fern und zugleich gefährlich erschienen, sodass ich jeden Gedanken daran mit aller Kraft ignoriert hatte. Jetzt aber war sie mir wie ein Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht geschüttet worden, und ich spürte, wie langsam das Leben in mich zurückkehrte, so sehr ich mich auch dagegen sträubte. Ich begann mich wieder als Mensch zu fühlen, und nachdem mein Herz monatelang nur wie im Winterschlaf geschlagen hatte, pochte es nun stark und pumpte warmes Blut in meine Adern. Mir wurde kotzübel und mein Kopf dröhnte.
    Später begannen die anderen, mich mit ihrer anhaltenden guten Laune anzustecken. Sie verhielten sich, als befänden wir uns auf einem Kreuzfahrtschiff und würden nur einige Tage Urlaub machen. Sie wurden übermütig, die noch vage Aussicht auf Freiheit war wie ein Irrlicht, dem sie blind hinterherrannten. Sie wurden unvorsichtig und vergaßen, was auf dem Spiel stand: unser letzter Rest an Würde. Unser letztes Quäntchen Geisteskraft, die Kraft, die unsere geschwächten Körper überhaupt noch funktionieren ließ. Wenn alles nur ein Trick war, so

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