Die Orangen des Präsidenten
würde sie uns herausgerissen wie ein lebenswichtiges Organ, und Saddam würde sie als Perlenkette des Todes um seinen Hals tragen können. Es gab in Gefangenschaft nichts Schlimmeres als Hoffnung, da sie die Gleichgültigkeit, die man sich wie einen Panzer übergestülpt hatte, zunichte machte und alles Leid, alle Misshandlungen einen wieder schmerzten. Enttäuschte Hoffnung – sie wäre der Todesstoß für jeden von uns gewesen, viel schlimmer als die Nachricht, dass wir den Rest unseres vermutlich kurzen Lebens weiter hier verbringen müssten; denn davon gingen wir ohnehin aus.
Doch ich konnte nicht länger widerstehen: Meine Gefühle waren ein leichtes Opfer der Hoffnung und gaben sich ihr in völliger Naivität hin. Hätte mir vor diesem Tag jemandgesagt, dass ich mich einmal auf Saddams Geburtstag freuen würde, hätte ich ihn wahrscheinlich für wahnsinnig erklärt oder ihn verprügelt.
Früher, als ich noch ein Kind gewesen war, mussten wir Schüler am 28. April nicht lernen, sondern durften singen und spielen. Die Lehrer köderten uns mit Süßigkeiten und Spielzeug, und am Mittag wurde eine große Feier zu Ehren Saddams auf dem Pausenhof der Schule abgehalten. Heute, als Erwachsener im Knast, freute ich mich tatsächlich wieder auf diesen Tag und konnte die ganze Nacht nicht richtig schlafen. Ich träumte von den vielen Dingen, die ich in meinem Leben nach der Entlassung tun würde …
Als mich die bellenden Stimmen der Wärter aus dem Schlaf rissen, fühlte es sich an, als sei eine Schönheit aus meinen Armen gerissen und unser gemeinsames Leben von Bomben in die Luft gesprengt worden. Ich hatte anders als sonst geschlafen, friedlicher, ruhiger, und war nicht so leicht erwacht. Die bloße Möglichkeit einer Amnestie hatte mich verändert. Sie verlangten von uns, lautlos stehen zu bleiben. Der Befehl war eigentlich unnötig, weil wir alle vor Freude und Spannung bereits so gehorsam wie Soldaten beim Appell bereit standen. Nach einigen Minuten erschienen einige Verhörpolizisten und ein Mann, der viele Sterne und Auszeichnungen an Schultern und Brust trug. Vielleicht war es ein General aus dem Präsidentenpalast? Ich hielt den Atem an. Solch hoher Besuch in diesem unbedeutenden Loch musste der Beweis sein. Ich starrte sehnsüchtig auf die Lippen des Generals und wartete darauf, dass er das Wort aussprechen würde, das für uns gleichbedeutend mit Paradies, Leben, Wunder oder Messias war: »Amnestie«, wiederholte ich vorsichtig im Innern. Dieses Wort war unsere Arche, unsere letzte Zuflucht, die uns vor der Sintflut retten würde!
Noch zwei weitere Wärter betraten den engen Flur und legten vorsichtig zwei große Kartons zu Füßen des Generals auf den Boden. Vielleicht sind die Dokumente der Amnestie darin, fragte ich mich. »Ruhe! Und hört zu!«, befahl ein Aufseher.Der General begann zu reden: »An diesem Tag, an dem unser Präsident, unser heiliger Führer, Saddam Hussein, Gott schütze ihn, geboren wurde« – alle Anwesenden klatschten –, »gibt es aufgrund seiner unendlichen Güte ein großzügiges Geschenk für alle Gefangenen. Das Geschenk stammt vom Präsidenten höchstpersönlich, Gott schütze ihn« – noch einmal klatschten alle Anwesenden. »Ich werde es Ihnen nun feierlich überreichen lassen und wünsche Ihnen von Herzen alles Gute für die Zukunft!«
Der General warf einen erhabenen Blick auf Wärter und Polizisten, machte auf dem Stiefelabsatz kehrt und ging nach draußen. Sie folgten ihm wie Ameisen ihrer Königin. Es blieben nur die Wärter mit den beiden geheimnisvollen Kisten zurück. Einer von ihnen trug einen Karton so vorsichtig wie ein Neugeborenes vor unsere Zelle und befahl uns allen, auf dem Boden Platz zu nehmen. Nachdem wir Folge geleistet hatten, fragte er: »Wie viele seid ihr?«
»Zwanzig«, antwortete Adnan.
Der Wärter öffnete die Schachtel, während wir uns alle so eng wie möglich an die Gitterstäbe drängten – jeder von uns wollte als Erster seine »zweite Geburtsurkunde« in Augenschein nehmen. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Der Deckel klappte zurück und die Welt, ja das gesamte Universum schrumpfte für uns auf die kleine quadratische Öffnung des Kartons zusammen, in die wir wie Wachsfiguren starrten. Es war, als hätte sich das Tor zur Hölle geöffnet und wir direkt in die feurige Verdammnis geblickt. Es dauerte einen Moment, bis ich wirklich begriff, was ich dort sah. In der Kiste lagen, ordentlich aufgereiht, leuchtende,
Weitere Kostenlose Bücher