Die Orangen des Präsidenten
weiter konnte und aufhörte, sich zu bewegen, musste »umerzogen« werden. Einmal war es der 25-jährige Mohamed, dessen schwacher Körper der Belastung nicht mehr standhielt und der reglos am Boden erstarrte. Er wurde daraufhin sehr hart erzogen – mit den Fäusten geschlagen und schließlich nackt mit Handschellen an der Haupttür aufgehängt, wo er bis zum nächsten Tag wie Schlachtvieh baumelte. Das war im eiskalten Januar. Die Wärter schütteten mehrere Male Wasser über ihn. Sein magerer und schwacher Körper schlotterte die ganze bittere Nacht hindurch. Wir anderen hatten Tränen in den Augen vor Wut und Hilflosigkeit. Das Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins schnürte uns allen die Kehle zu. Nicht nur Mohamed hing dort, wir alle wurden in unserem Innern gemeinsam gefoltert, wenn einer von uns in den Genuss der Erziehungsmethoden kam. Am nächsten Tag holte ihn Adnan in die Zelle zurück. Er zitterte zwei Tage und lag im Fieber. Am dritten Tag kamen zwei Wärter und nahmen ihn ohne eine Erklärung mit. Adnan meinte leichtgläubig: »Er kommt sicher ins Krankenhaus.« Seitdem haben wir ihn jedoch nie mehr wiedergesehen. Er war entweder in ein anderes Gefängnis verlegt worden oder er ist an der Umerziehung gestorben und irgendwo in der Nasrijah-Wüste verscharrt worden.
Die Erziehungsmethoden waren höchst unterschiedlich und sehr durchdacht und ausgefeilt. Einmal mussten sich einige Kurden auf dem Flur aufstellen und hundertmal mit lauter Stimme die Parole wiederholen: »Nieder mit Kurdistan!« Währenddessen schlugen die Wärter aus Spaß und Langeweile auf sie ein, bis sie völlig außer Atem waren.
An einem anderen dieser Umerziehungstage erschien ein sehr hübscher junger Offizier mit sechs weiteren Wärtern vor unserer Zelle. Er war, wie ich später erfuhr, Sunnit und hießOmer. Wir standen alle ängstlich auf und starrten auf den Boden, um jeden direkten Augenkontakt zu vermeiden, da dieser bei den Wärtern oftmals dieselbe provozierende Wirkung wie bei tollwütigen Tieren hatte. Er wippte munter in seinen modischen schwarzen Schuhen auf und ab und musterte jeden von uns eingehend, indem er ganz nah an die Gitterstäbe herantrat. Schließlich blieb er vor Adnan stehen.
»Bist du Adnan?«
»Ja, Herr!«
»Wie ergeht es euch hier?«
»Hervorragend, mein Herr!«
»Ich will alle Mitglieder der schiitischen Parteien sofort im Flur sehen. Die anderen, Kurden oder Kommunisten, bleiben in ihren Zellen. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Herr.«
Dann warf er uns einen scharfen Blick zu. »Wer ist Mahdi?«
»Ich«, sagte ich schwer schluckend.
»Du bleibst in meiner Nähe.«
»Ja, Herr!«, stammelte ich fast wahnsinnig vor Angst.
Ich stand zitternd neben ihm und wusste nicht, was da vor sich ging. Aber mein Herz klopfte wie ein wild gewordener Specht an einem Baum.
Als sich die schiitischen Häftlinge im Flur versammelt hatten, befahl ihnen ein Wärter, sich auf den Boden zu setzen. Der Offizier ließ sich ebenfalls nieder und bedeutete mir mit der Hand, mich neben ihn zu setzen. Ein Wärter reichte ihm ein dickes grünes Buch. Er hielt es hoch.
»Wie heißt dieses Buch?«, fragte er.
Kurzes Schweigen.
»Antwort!«, schrie er zornig.
Alle antworteten: »Mafatih Al-Dschinaan – Schlüssel des Paradieses«.
Ich erinnerte mich sofort an dieses Buch. Meine Mutter hatte es auch zu Hause gehabt. Sie hatte darin fast nach jedem Gebet gelesen. In den Moscheen habe ich es auch gesehen.Es lag immer auf den Fensterbrettern und war eine sehr bekannte schiitische Sammlung von Bittgebeten.
Er schlug es auf. »Wir lesen heute gemeinsam das Bittgebet von Kumail. Wer kennt es?«
Er schaute Ahmed streng an. »Du vielleicht?«
»Ja, Herr! Ich kenne es.«
»Erzähl uns, wie es entstand und wann man es lesen soll.«
»Ja, Herr! Es ist von Imam Ali. Er hat es seinem Gefährten und Schüler Kumail beigebracht, und dieser hat es an uns weitergegeben. Daher wird es das Bittgebet von Kumail genannt. Es wird von den Gläubigen bei vielen Anlässen gemeinsam gelesen, insbesondere in der Nacht von Donnerstag auf Freitag.«
»Dann werden wir jetzt gemeinsam lesen! Heute ist schließlich Donnerstag. «
Der Offizier begann zu lesen. Das Gebet war sehr lang. Er las so versunken wie ein tief religiöser Mensch. Oft wiederholte er Abschnitte mehrere Male. Seine Stimme bebte vor Leidenschaft. Einige Zeilen las er sogar mit fast geschlossenen Augen, so als könne er den gesamten Text auswendig.
Oh Licht, Oh Heiligster
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