Die Ordensburg: Elfenritter 1 - Roman
Sie hatte einen falschen Namen ersonnen und neue Kleider erworben. Sie war jemand anderes, wenn sie sich auf einem schmutzigen Lager oder in einer Gasse anbot, um unbehelligt der Spur Gishilds folgen zu können. Das war nicht Silwyna. Sie nannte sich dann Mirella. Und wenn sie das Safrangelb ablegte und sich gewaschen hatte, dann hörte Mirella auf zu existieren.
Die Elfe hatte viel über die einfachen Menschenkinder gelernt. Am meisten hatte sie überrascht, dass sie die Kirche nicht fürchteten. Im Gegenteil, sie waren ihr ergeben und fanden in ihr einen Halt im Leben. Silwyna war bewusst geworden, dass sie einen solchen Halt nicht hatte. Ihr Leben hatte lange kein Ziel gekannt, seit Jahrhunderten nicht mehr. Erst als Emerelle sie zu Gishild geschickt hatte, hatte sich das geändert. Was ihr anfangs eine Last gewesen war, hatte sie mit der Zeit erfüllt, wie sie nichts mehr erfüllt hatte, seit Alfadas im letzten Trollkrieg gestorben war.
Silwyna hatte sich geschworen, dass sie alles ertragen könnte, um Gishild wiederzufinden. Wenn sie das Safrangelb trug, dann war dies ihre Buße. Sie hätte in jener Nacht nicht
das Dorf verlassen dürfen. Ihr wäre gewiss aufgefallen, wie Gishild sich davonschlich.
Sie hatte das Mädchen gemocht. Gishild war fast eine ferne Urenkelin. Manchmal hatte Silwyna geglaubt, Züge von Alfadas in ihr zu erkennen. Natürlich war das Unsinn. Gishild war ein Jahrtausend nach ihm geboren! Dennoch vermochte sie sich diesem Gedanken nicht zu verschließen. Er weckte ein unbekanntes Gefühl in ihr. Ein Gefühl, das kühle Logik einfach beiseitewischte und ihr Tränen in die Augen trieb.
Wieder ging ein Wachposten vorüber, und Silwyna nutzte die Gelegenheit, ein Stück weiterzuschleichen. Der Regen perlte von ihrem Gesicht. Er trug die Tränen davon. Dies war nicht der Ort, sich Gefühlen hinzugeben! Ein paar Schritt noch … Dann wüsste sie, dass alles Lügen waren, was sie gehört hatte. Die Prinzessin war nicht tot! Das waren nur Gerüchte, um Verfolger abzuschrecken. Es hieß, dass man sie hier bestattet hatte. Vor zwei Monden schon.
Silwyna war den Geschichten von Paulsburg aus gefolgt. Zunächst hatte sie Gishilds Spur verloren. Doch dann hatte sie ihre Suche hierher ins Herz des riesigen Priesterreichs geführt, nach Aniscans. Dorthin, wo Alfadas einst Zeuge geworden war, wie der heilige Guillaume starb. Dorthin, wo die Kirche Tjureds am mächtigsten war.
Silwyna hatte das Grabmal des Mannes gesehen, der halb Elf und halb Dämon gewesen war. Und ausgerechnet ihn hatte die Kirche zu ihrem bedeutendsten Heiligen erkoren. Die Welt der Menschen war verrückt! Sie lebten einfach zu kurz. Ein paar Jahrhunderte genügten, und auch die dreistesten Lügengeschichten wurden als Wahrheit akzeptiert. Im Lügen waren sie gut. Gishild war nicht tot! Das durfte nicht sein! Es war unmöglich. Silwyna spürte, dass das Mädchen
noch lebte. Und dennoch war sie gekommen, um ihr Grab zu sehen. Dort würde sie die Lügen aufdecken.
Durch den Torbogen des nächsten Wachturms sah sie Funken aufsteigen. Ein Soldat hatte ein Holzscheit in die Feuerschale gelegt. Die Männer hielten die Hände dicht über die Flammen. Der Nordwind peitschte eisigen Regen gegen das Mauerwerk. Silwyna blickte nach oben. Warum mussten sie ihre Gräber auf Türmen errichten! Sie kannte die Antwort. Diese Narren glaubten, dass ihre Toten dann dem Himmel näher waren. Sie waren wahrhaft verrückt, die Menschen, allesamt!
Die schlanken Finger der Elfe tasteten über die glatten Mauersteine. Die Fugen waren breit genug, um ihr Halt zu geben. Sie würde mehr als zwanzig Schritt hochklettern müssen. Und kein Wachsoldat durfte aufblicken. Es gab keine Deckung an der Mauer. Doch aufzublicken hätte geheißen, das Gesicht dem eisigen Regen auszusetzen. Sie würden es nicht tun. Mehr als eine halbe Stunde hatte Silwyna die Wachen nun schon beobachtet. Keiner hatte aufgeblickt. Sie wäre an der Mauer sicher, solange es regnete und sie kein verdächtiges Geräusch machte.
Die Elfe hatte sich mit einem Zauber gegen die Kälte der Nacht gewappnet. Aber der Regen gefror auf ihrem Umhang und machte ihn steif und schwer. Ein letzter Blick zu den Wachen, dann begann sie den Aufstieg. Steinreihe um Steinreihe arbeitete sie sich die Wand hinauf. Sie spürte das Wasser, das die Mauer hinabrann, dicker und dichter werden. Es wurde immer schwieriger, einen Halt zu finden. Lange würde das nicht mehr gut gehen.
Silwyna verstärkte ihre
Weitere Kostenlose Bücher