Die Ordensburg: Elfenritter 1 - Roman
eingeschärft. Es gab keine Flucht aus dem Tal der Türme. Und sollte es ihr doch gegen jede Wahrscheinlichkeit gelingen, war es unmöglich, die Halbinsel Valloncour zu verlassen. Drei Festungen erhoben sich über dem einzigen Weg zum Festland, und auch die Schiffe im Hafen waren streng bewacht. Keine Maus konnte unbemerkt Valloncour den Rücken kehren, und erst recht keine zwölfjährige Prinzessin. Wer bei Nacht unerlaubt die Baracke verließ und erwischt wurde, der wurde mit zehn Rohrstockschlägen auf die nackten Fußsohlen bestraft.
Gishild erklomm einen kleinen Hügel, von dem aus sie
die Ebene jenseits des schmalen Waldstreifens sehen konnte. Selbst wenn kein Mond am Himmel stand, so reichte ihr doch das schwache Licht der Sterne, um einen Reiter zu entdecken. Von dort würde Drustan kommen, und sie wäre längst vor ihm zurück auf ihrem Lager.
Die Prinzessin lauschte auf die Geräusche der Nacht. Das Wispern des Windes in den Ästen. Das Rascheln des trockenen Laubs, das der Herbst von den Bäumen gepflückt hatte. Die Nacht war kühl. Sie bedauerte, keinen Umhang mitgenommen zu haben.
Wie jedes Mal, wenn sie hierherkam, spähte sie in die Schatten des Waldes, bis ihr die Augen brannten. Wann nur würde Silwyna kommen, um sie zu retten? Mehr als anderthalb Jahre waren vergangen, seit sie ihrer Familie geraubt worden war. Nachrichten vom Krieg in Drusna gelangten nicht bis an die Ohren der Novizen. Sie waren hier von der Welt abgeschnitten. Hatte ihr Vater es endlich geschafft, den Heerscharen der Kirche Einhalt zu gebieten? Verhandelte er um ihre Freilassung? Wann würde sie die Lanze verlassen dürfen? Kinder, die man zwang, ihren eigenen Grabturm zu errichten! Alle hier waren verrückt. Was sie Glauben nannten, war Wahnsinn. Mitreißender, den Verstand verschlingender Wahnsinn. Sie hatte die Novizen des letzten Jahrgangs gesehen. Jeder von ihnen war ihr wie ein Held erschienen. Ritter in strahlender Rüstung waren sie. Abgehärtet in sieben Jahren, in denen ihre Magister keine Gnade mit ihnen gekannt hatten. Jahre, in denen ihre stillen Gebete an Tjured und die gelegentlichen Siege beim Kettentanz der einzige Trost gewesen waren. Sie würden schreckliche Feinde sein.
Jedes Jahr gebar Valloncour hundert dieser Helden, um die Lücken in den Schlachtreihen der Kirchenheere zu füllen. Sie würden siegen. Dem hatte das Fjordland nichts entgegenzusetzen.
Und nicht einmal Albenmark würde in diesem blutigen Krieg ewig standhalten. Das hatte Gishild begriffen. Seit sie ein Kind war, lebte sie unter Kriegern. Und Valloncour machte ihr Angst. Vielleicht hatte man sie deshalb hierhergebracht. Um ihren Willen zum Widerstand zu brechen. Wenn doch nur Silwyna endlich käme, um ihrer Gefangenschaft ein Ende zu bereiten!
Die Prinzessin dachte an jenen schrecklichen Tag, als ihr die Elfe zum ersten Mal begegnet war. Den Tag, an dem ihr Bruder Snorri im großen Grabhügel von Firnstayn beigesetzt worden war. Silwyna war als Einzige nicht im Festgewand erschienen, sondern hatte das abgewetzte Leder einer Waldläuferin getragen. Wie ein Geist war sie einfach plötzlich da gewesen, eine Elfe mit einem strengen, doch schönen Gesicht. Ihr Antlitz war mit Bandag bemalt gewesen. Spiralmuster, in denen man erst auf den zweiten Blick Wolfsköpfe erkannte, hatten sie geschmückt und sie noch unnahbarer erscheinen lassen. Sie hatte nach Wald und Tod gerochen. Jeder hatte schon von ihr gehört. Seit einem Jahrtausend sangen die Skalden von ihr, der Geliebten des Königs Alfadas, der Elfe, die sich mit dem Herrscher der Menschen verband, nachdem dieser sein Weib Asla in der Schlacht am Rentiersteig verloren hatte. Sie alle hatten sie sofort erkannt, jene Gestalt aus Liedern und alten, staubigen Büchern. Sie war älter als das Königsgeschlecht, dessen jüngster Spross an diesem Tag zu Grabe getragen worden war.
Es gab ein Märchen über sie, in dem es hieß, sie hätte Asla in eine Eiche verwandelt, weil sie das Herz des Königs begehrte, den sie gekannt hatte, seit er in seiner Kindheit am Hof der Elfenkönigin Emerelle aufgewachsen war. Sein Herz hatte sie so zurückerobern können, doch war es von einer Traurigkeit durchdrungen gewesen, die König Alfadas
bis ans Ende seiner Tage nicht abzulegen vermochte. In dem Märchen hieß es, dass Kadlin, die Kriegerkönigin, viele Jahre nach dem Tod von Alfadas die Eiche fand, die einstmals ihre Mutter gewesen war. Und sie brachte eine Eichel zum Grabhügel in Firnstayn und pflanzte
Weitere Kostenlose Bücher