Die Ordensburg: Elfenritter 1 - Roman
Edelmut auch die Seele des kleinen, namenlosen Säuglings, den die Anderen raubten, um ihn in einem Brunnen zu ertränken und dich an seine Stelle zu legen.«
Luc blickte teilnahmslos vor sich hin.
Es zerriss Michelle das Herz zu sehen, wie Honoré es in so
kurzer Zeit geschafft hatte, den Jungen zu brechen. Seelen waren wie Wachs in Honorés Händen. Er konnte sie nach Belieben formen. Selbst ihr, die sie mit ihm gemeinsam ausgebildet worden war und die sie alle Schliche kannte, fiel es schwer, sich der Macht seiner Worte zu entziehen. Es war beängstigend, wie sicher er das Verhör führte. Und das, obwohl er kaum dem Tod entronnen war. Sie hatte lange nicht mehr neben ihm gesessen, wenn er seine Kunst ausübte. Wie musste es erst sein, wenn er völlig bei Kräften war!
Der Junge verließ mit gesenktem Kopf das Jagdzimmer. Bartolomé legte Luc freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
Michelle war sich bewusst, dass Honoré ausgerechnet denjenigen unter ihren Brüdern hinausgeschickt hatte, der sich vielleicht auf ihre Seite geschlagen hätte. Auch wenn Tjured Bartolomé mit der Statur eines Metzgers und dem Gesicht einer Bulldogge keine leichte Prüfung auferlegt hatte, so war ihrem Ritterbruder doch zugleich ein gütiges Herz geschenkt worden. Er wäre unvoreingenommen gewesen.
»Lass dich von dem unschuldigen Äußeren des Kindes nicht täuschen, Michelle. Glaubst du, mir fällt es leicht, ihm das Leben zu nehmen?«
Michelle fluchte stumm. Er wollte sie in der Defensive halten. Das fing ja gut an!
»Warum bist du dir so sicher, dass der Junge ein Wechselbalg ist?«
»Ich kann es fühlen«, sagte Honoré ernsthaft und ganz ohne eifernden Unterton. »So wie ich die Anderen in den Wäldern Drusnas fühlen konnte. Oder die grässlichen Blutstätten, an denen die Bojaren ihren Götzen huldigten. Tjured hat mir diese Fähigkeit geschenkt, und glaube mir, Schwester, heute ist sie mir ein Fluch. Ich wünschte, ich wäre mir
nicht so sicher und mein Zweifel würde mir erlauben, den Jungen am Leben zu lassen.«
»Und wenn Tjured sein Leben verschont hätte, weil der Junge zu Großem berufen ist? Vielleicht ist er die eine Seele in diesem Dorf, die noch nicht zum großen himmlischen Chor gehören darf. Vielleicht muss er erst noch seine Stimme im Lied alles Irdischen erheben. Ja, vielleicht wird er diesem Chor dereinst der Vorsänger sein.«
Honoré stieß einen langen Seufzer aus. Er bedachte sie mit einem Blick wie ein Lehrmeister ihn einem begriffsstutzigen Schüler schenkt. »Deine Zweifel in allen Ehren, Michelle. Ich verstehe, dass du nach dem, was in Drusna geschah, so schwer mit dir ringst, wenn es um das Leben eines Kindes geht. Wir alle fühlen so.«
Er sah in die Runde. Corinne nickte. Frederic und Nicolo hüllten sich in beredtes Schweigen.
Michelle fragte sich, ob ihre Gefährten auch noch von jener Nacht träumten, die nun schon mehr als ein Jahr zurücklag.
»Und wenn du doch irren solltest?«, wandte die Ritterin ein.
»Liegt es daran, dass ich das Offensichtliche ausgesprochen habe? Liegt es an mir? Hättest du dich nicht widersetzt, wenn Bruder Nicolo an meiner Stelle das Wort ergriffen hätte? Ist es wegen der Nacht an der Bresna? Deine eigene Schwester hat vor dem Ordensgericht für mich gesprochen. Militärisch gesehen war mein Befehl das einzig Richtige. Die Heiden wären uns alle entkommen, wenn ich nicht zum Angriff geblasen hätte.«
Michelle atmete schwer. Sie versuchte, sich gegen die Erinnerung zu wappnen, die nun mit aller Macht wiederkehrte. Ihre Stimme zitterte, als sie sprach.
»Ich werde für den Jungen eintreten. Ich bin von seiner Unschuld überzeugt.«
Alle sahen sie bestürzt an. Sie wussten, was ihre Worte zu bedeuten hatten. Michelle selbst konnte kaum glauben, was sie da ausgesprochen hatte. Sie hatte sich hinreißen lassen. Aber wenn sie jetzt einen Rückzieher machte, wäre der Junge verloren. Sie sah Honoré an und gewahrte den fanatischen Hass, der in ihm brannte. Das war nicht mehr der Mann, den sie einmal geliebt hatte. Diesen Honoré hatten die Wälder Drusnas und der Schrecken des Krieges getötet. Sie würde ihm nicht noch ein weiteres Kind opfern!
»Du willst doch wegen dieses Jungen kein weiteres Blut vergießen?«, brach Frederic das erschrockene Schweigen ihrer Ordensbrüder. »Genügt es nicht, was er Bruder Honoré angetan hat? Ist dir dieser verfluchte Wechselbalg näher als deine Brüder und Schwestern? Die Beweise gegen ihn sind doch
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