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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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Gardinen. Der Geschmack des Gebäcks, süß, etwas salzig manchmal.
    Breitenbach schlug schwungvoll sein beigebraunes Bein über und sagte, dass der Mechanismus identisch sei, die Struktur. Er bat, dass man es ihn folgendermaßen erklären lasse, dass nämlich, so sprach er, ohne die Erlaubnis abzuwarten, der Melancholiker und der Liebende ihrem Wesen nach Trauernde seien, sozusagen. »Der Trauernde«, sagte er, »hat, wie wir wissen, einen Verlust zu beklagen, weil er jemanden verloren hat. Was aber tut er mit seinem Verlust, was tut er mit dem Menschen, den er verloren hat? Er konstruiert sich ein Bild der Erinnerung, Er-Innerung, allein das deutsche Wort beschreibt diesen Vorgang auf das Anschaulichste, der Trauernde verinnerlicht den Verstorbenen, und er selbst verschließt sich der Außenwelt, indem er sich in den Raum seiner Erinnerung zurückzieht.« Breitenbach rieb seinen Rücken behaglich an der Stuhllehne. »Die Parallelen zur Melancholie sind ja offenkundig: Auch der Melancholiker zieht sich in den Erinnerungsraum zurück, in die Innenwelt der Imagination, denn auch er beklagt einen Verlust, den Verlust der Einheit, den Verlust des naiven Erlebens. Und der Liebende?«
    Tom hatte nicht gewusst, ob Breitenbach eine Antwort erwartete, aber trotzdem eine gegeben. »Er trauert darüber, dass er nicht besitzen kann«, sagte er. »Man wird niemanden komplett besitzen, wahrscheinlich«, fügte er stolz hinzu.
    »Sie haben recht!« Breitenbachs weißer Zeigefinger zeigte in die Höhe. »Der Liebende kann das Geliebte nicht besitzen, und er substituiert es als Gedankenbild in seiner Phantasie. Sowohlder Trauernde als auch der Melancholiker als auch der Liebende, sehen Sie, richten sich dauerhaft, lassen Sie es mich so formulieren, in der guten Stube der Erinnerung ein. Und diese gute Stube der Erinnerung bewahrt uns vor der Welt!«
    Tom Holler lag in Genua, über ihm die rosafarbene Stuckdecke des Hotelzimmers, darüber der tiefblaue Himmel, an dem die Sonne, die einige Stunden zuvor am Golf von Neapel hinter dem Vesuv aufgegangen war, ihrer Bahn gegen Mittag folgte, und blickte in die gute Stube der Erinnerung. Darin saß Breitenbach neben Marc neben Betty neben dem rothaarigen Mädchen. Es macht keinen Unterschied, wann etwas vergangen ist, vor vierzehn Jahren oder vor einer Sekunde, dachte er. Er öffnete die Augen, sah eine Hand auf der Bettdecke, seine eigene, weiß, und am Übergang zum Arm schwarz behaart, Zeige- und Mittelfinger gelb verfärbt. Er sah den Fernseher, der tonlos lief, eine schöne Moderatorin erklärte darin das Wetter, hatte ihm vielleicht die halbe Nacht das Wetter zu erklären versucht. Er richtete sich im Bett auf, aber der Schmerz hinter seiner Stirn zwang ihn sofort wieder in die Horizontale. Er schloss die Lider, behutsam, denn schon die kleinste Bewegung der Augäpfel verursachte ein Stechen. Er wunderte sich. Alles war gleich groß in seiner Erinnerung: Die Wettermoderatorin, Breitenbach, Betty und Marc und Maren, mit der er glücklich gewesen war, besoffen, aber glücklich.
    Und wenige Stunden zuvor hast du über das Glück nachgedacht, dachte er, in der Kantine des Theaters, eine Zigarette zwischen den Lippen, die du aber nicht anzündetest. Ulrich Zadera, der, seit er Vater geworden war, nicht mehr rauchte, als wäre das Leben mit einem Mal wertvoller, hatte auf seiner DigitalkameraBilder aus seinem Urlaub in Süditalien gezeigt. »Der Strand, unsere Ferienwohnung, unsere Terrasse.« Er selbst hatte aufs Display gestarrt und an seine Berliner Wohnung gedacht, die er am Vortag erst verlassen hatte und die ihm doch ebenso weit entfernt schien wie seine frühe Kindheit. Ulrich hatte einen Videofilm gezeigt, Karl, das Kind, das lachend einen riesigen, offenbar gutmütigen Hund zu fangen versucht. »Der Karl und sein Freund«, sagte Ulrich, und Holler dachte, dass er seine Berliner Wohnung verlassen hatte, als wäre es für immer. Ulli zeigte einen zweiten Film, lächelnd. Unser Strand, unsere Terrasse, unser Leben. Holler, der seit längerem den Verdacht hegte, der Schlagzeuger sei glücklich, war sich auf einmal sicher gewesen, dass er glücklich war. Langweilig, aber glücklich. Aber das Glück machte einsam. Das Glück anderer Menschen macht immer einsam, weil das Glück der Menschen, zumal das Familienglück, die übrigen ausschließt, hatte Holler gedacht, während Zadera an seiner Kamera drückte.
    Zadera sagte: »Die Judith und der Karl.« Holler dachte: Das Familienglück ist

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