Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Selbstverständlichhatte sie den Vortritt, aber momentan stand das Taxi ohnehin im Stau, umspült von Regenfluten, der Scheibenwischer quietschte hektisch. Jetzt sei sie an der Reihe mit Raten, sagte er, aber sie wusste es ja längst: Er sei Bibliothekar. Er lachte. So sehe sie ihn also, als Bibliothekar. Sie habe eigentlich recht, fand er, fast ein Volltreffer sozusagen, wenn auch für einen Mann nicht gerade das größte Kompliment, wie er annahm. Er trug es mit Fassung. Er sei nämlich in erster Linie Leser, außerdem Kommunist, und die lächerliche Krawatte trage er nur heute, weil er heute eigentlich die Verteidigung seiner Doktorarbeit hätte absolvieren sollen (spät genug mit 36), doch diese Verteidigung habe nicht stattgefunden, weil ausgefallen, weil Streik. Und, fuhr er fort, natürlich sei er für den Streik, es gehe um bessere Studienbedingungen und so weiter, aber den bourgeoisen Herren Professoren nehme er diesen Streik nun schon überhaupt nicht ab, weil die nämlich nicht streikten, sondern auf ihren Segelyachten herumschipperten.
»Bei dem Wetter?«, fragte Betty.
»Geschieht ihnen recht«, sagte Alfredo.
Worüber er geschrieben habe, wollte sie wissen.
»Adorno.«
Adorno? Dann spreche er ja Deutsch?
Er nickte. Er liebe die deutsche Philosophie, die deutschsprachige Literatur, erklärte er, indem er aber keineswegs deswegen ins Deutsche wechselte, er liebe: Heine, Kafka, Musil, Brecht, Bernhard. Hesse natürlich nicht, Mann nur bedingt, selbstverständlich die Klassiker, also was Schiller da gemacht habe, sei ja wohl …, aber auch Goethe, aber vor allem auch Hölderlin. Auch das deutsche Theater, sagte er, sei dreimal deswegen in Berlin gewesen, ob sie Berlin kenne. Seine Augen blickten imTaxi umher, als ob es zu klein wäre für diese Namen, für seine Begeisterung. Auch das deutsche Frühstück übrigens, »euer Frühstück«, sagte er, allein deswegen lohne es sich, lohne sich Deutschland, sagte er gestikulierend. Betty musste wirklich lächeln.
Hier dagegen glotze man nur fern. Er sank etwas ein auf seinem Sitz. Die Fernseher sollte man ihnen abnehmen als Erstes, sagte er, den Familien in den dunklen Erdgeschosswohnungen in dunkler schmaler Gasse, wo niemals ein Sonnenstrahl den ganzen Tag, sommers wie winters nicht, hineinfalle, sagte er, indem er sich wieder aufrichtete, aber diese Familien, die mit acht oder zehn Leuten vielleicht in einem Raum lebten, auf 20 Quadratmetern, Wäsche über die Gasse gespannt, wo den ganzen Tag der Fernseher laufe mit seinem armseligen amerikanischen Programm und das letzte Fünkchen Menschengeist vergifte (er hielt beide Hände vor seinem Gesicht so, dass sich die in die Höhe weisenden Fingerkuppen alle berührten), diese Familien wolle man natürlich absichtlich dumm halten und in die Fänge der Camorra treiben, als Drogenkuriere und Mörder die Söhne, während die Mädchen Dummköpfe heirateten aus lauter Not, Camorrabosse; den Fernseher müsse man ihnen als Erstes abnehmen, den oberen wie den unteren.
Sie wusste nicht, warum, aber wieder musste Betty lachen. Auch er lachte aus Sympathie, schien es, mit, obwohl er bitterernst meinte, was er sagte. Dass nämlich, fuhr er fort, genau dies Kommunismus sei!, den es bisher übrigens noch nie, in keinem Land der Welt, nicht in der Sowjetunion natürlich, nicht in der DDR, nicht in Kuba und natürlich nicht in China je bisher gegeben habe, weswegen auch natürlich nicht von einem Scheitern eben jenes Kommunismus die Rede sein könne, wenner das schon höre, dieses Gerede von der großen, aber nach dem Mauerfall leider gescheiterten Utopie, nein und noch mal nein, es habe ihn einfach noch nicht gegeben, diesen Kommunismus, in welchem auch der Gabelstaplerfahrer Petrarca lese und nicht fernglotze, aber es werde ihn geben, denn auf das Scheitern des globalisierten Kapitals folge als historisch logische Konsequenz der Weltkommunismus.
»Und wenn der Gabelstaplerfahrer vor lauter Petrarca-Lesen dann keine Lust mehr hat, Gabelstapler zu fahren?«, fragte Betty.
Er, von dem sie den Namen noch nicht kannte, nur die Geisteshaltung, antwortete, als hätte er nur auf diesen Einwand gewartet: »Er soll aufhören, Gabelstapler zu fahren.« Die Gesellschaft brauche, sagte er, wie er es sicher schon oft gesagt hatte, im Grunde keine Gabelstaplerfahrer mehr, weil die Technisierung den Menschen ja wohl vom Zwang zur Arbeit befreit habe und man nur akzeptieren müsse, dass es Arbeitslosigkeit gar nicht gebe , ein
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