Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Jahrhunderts sei es erst dort hinaufgesetzt worden, weil der Wohnraum knapp gewesen sei. Ohne erst in einen Flur zu gelangen, stand man sofort in einer kleinen Wohnküche voller Bücher, die in Stapeln auf dem Fußboden lagerten, weil die Regale schon voll waren, außerdem gab es ein Bad und ein Schlafzimmer, groß genug für ein Bett. Man könne nur hoffen, so Alfredo, dass Fundament und Mauerwerk noch eine Weile trügen. So aber sei die gesamte Stadt, mehr oder weniger, man stehe hier allerorten auf schwankendem Boden. Er lächelte entschuldigend, die Hände in den Taschen, und hob die Schultern. Ob sie sich umziehen wolle …, fragte er, natürlich müsse sie sich umziehen, sie sei ja komplett durchnässt, sie könne auch duschen selbstverständlich, während er einkaufe. Sie aber hatte die Glastür entdeckt, deutete hinaus. »Die Terrasse«, sagte Alfredo, nicht ohne Stolz, diese sei die eigentliche Wohnung, aber ob sie sich nicht lieber erst umziehen …
Betty aber hatte schon die Tür geöffnet und trat hinaus auf die Terrasse, die geräumiger war, als sie es für möglich gehalten hätte, 80 Quadratmeter, präzisierte Alfredo, demnach in etwa dreimal größer als die Wohnung, und voll von Pflanzentöpfen, Palmen, blühendem Oleander, Zitronen. Es regnete nicht mehr. Der Himmel, der direkt über den Pflanzkübeln begann, war rauchig an den Rändern. Darunter breitete sich das Geschachtel, Gewimmel von Dächern aller Farben den Hügel hinab. Und immer wieder die blassrötlichen ins letzte Licht gehüllten Kuppeln der Kirchen inmitten der Dächer, inmitten des Antennengeflechts, das an den Himmel kratzte. Unten lag wie eineriesige Eisfläche das Meer, durchfurcht von weißen Schiffsspuren. Links der Vesuv. Im sinkenden Abendrot. Und der Lärm der Vespas, das Hupen der dreirädrigen Minilaster, Rufen der Fischhändler, Gemüsehändler, Zigarettenhändler, alles wehte von weit nur herauf, ein Pfeifen, eine arabeske Gesangslinie von irgendwo. Es war niederschmetternd. Es war Schönheit. Nie hatte Betty Vergleichbares gesehen, also sagte sie: »Danke.«
Alfredo stand neben ihr, seine Hände beulten die Hosentaschen, etwas stolz war er offensichtlich, sogar ein wenig verlegen, als bezöge sich ihr Erstaunen auf ihn. Bedanken müsse sie sich nicht, sagte er, er habe es ja nicht gemacht. Natürlich nicht, gab Betty zu, trotzdem sei es … Sie schwieg. Sie fror etwas. Und doch hatte sie in diesen Augenblicken, von denen sie später nicht mehr würde sagen können, wie viele es ungefähr gewesen sind, weil sie eigenartig dicht ineinandergefügt waren, den Eindruck, dass man hier oben, allem enthoben, wie es vielleicht im Gebirge sein musste, stellte sie sich vor, oder auf einem Schiff in schäumender Gischt, zu laut, um die eigenen Gedanken zu hören, dass man hier, hinausgehoben über Welt und Leben, wenn auch vielleicht nicht glücklich, so doch wieder lebendig werden könnte, ausgefüllt von der Unmittelbarkeit eines nicht bedachten, nicht hinterfragten Daseins, unmittelbar anwesend und abwesend zugleich.
Während sie in seinem Bademantel im Sonnenuntergang auf der Terrasse saß und Wein trank, servierte Alfredo das Essen. Mozzarella, dann Spaghetti alle Vongole, dann Tintenfischringe in frischen Tomaten. Später las er ihr zunächst Musil vor, auf Deutsch, was sich witzig anhörte, dann Petrarca auf Italienisch, was sich schön anhörte, und indem er auf der Terrasse auf undab ging und die Hand dabei im Rhythmus der Worte drehte, als müsse er sich selber dirigieren, hielt er zwischendurch immer wieder inne, um zu erklären, worum es ging, nämlich um das Paradoxon der unerwiderten Liebe, die erstaunlicherweise immer flammenheiß und schneekalt gleichzeitig sei und Francesco Petrarca zum ersten modernen Menschen mache, diese Liebe.
Betty aber bezweifelte das. Liebe, sagte sie, habe es schon immer geben müssen, nicht erst seit Petrarca, denn alles sei ja doch in erster Linie eine Frage der Hormone und gewisser chemischer und elektrischer Schaltreaktionen im Gehirn, erklärte sie und fühlte sich ganz als Ärztin, begabt mit einem unbestechlichen und sachlichen Blick. Er stutzte und schwieg, denn, so dachte sie, indem sie ihren unbestechlichen und sachlichen Ärztinnenblick auf ihn aufrechterhielt, was wollte er auch sagen, der Geistesmann, der nur von Büchern, nicht aber von den harten Fakten eine Ahnung hatte. Wenn sie, die Fachfrau sagte, es liege an den Hormonen, dann hatte er gefälligst den Mund zu
Weitere Kostenlose Bücher