Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Takts, und die Ausdünnung, gefährliche Leere, in der sich die wiederkehrenden Eckpunkte scharf hervorhoben, die Freilegung des Grundmusters, ewige Wiederholung, Aufstehen, Schlafen, Aufstehen, bis eine minimale Abweichung das ganze System ins Rutschen brachte, die Popstringenz zusammenbrechen, sich in virtuose Einzelgänge aufsplittern und in Freejazzkrach untergehen ließ, bevor man sich zwischendurch in einem romantischen Song wieder zusammenfand, in einer swingenden Version von Nick Drakes »Time Has Told Me« oder Bob Dylans endlosem »Sad-Eyed Lady of the Lowlands«.
Auf dem Rückweg machten Baldur, Holler und Morgenthal – Zadera verbrachte ein paar Tage in Wien – bei Baldurs Mutter in Altdorf /Oberfranken Station. Baldurs Mutter Lisa bewohnte eine alte Mühle, die nach dem Tod des Staatsanwalts viel zu groß geworden war und die aufgrund der niemals endenden Sanierungsarbeiten inzwischen ein Vermögen verschlungen hatte. Marc, der ihr anfangs geraten hatte, das marode, ständig irgendwo eingerüstete Gemäuer zu verkaufen, war inzwischen davon überzeugt, dass es die beste Lebensversicherungfür seine Mutter sei: ein Zaubergebäude, das niemals fertig wurde, immer im Werden begriffen, da es an jeder Ecke jede Minute etwas zu tun gab, ein Rundlauf in alle Ewigkeit, noch dazu ein Museum. Jeder Winkel in jedem der zahlreichen Schuppen, jede verschattete Ecke des verwilderten Gartens war mit Kunst ausgestopft, gefundener Schrott zu allerlei Formen und Gegenständen zusammengeschraubt, Computermonitore als Menschengesichter, bunte Holzstelen unter Bäumen, Hängematten aus Stacheldraht, und auch das Haus selbst mit seinen filigran bemalten Holzstiegen, seinen niedrigen Räumen voll absurder Schnitzereien, den Mosaiken im Badezimmer aus gefundenen Keramik- und Fliesenresten war ein ständig sich wandelndes Kunstwerk, das nebenbei auch als Wohnung diente.
Nur ein einziges Zimmer gab es, hoch unter dem spitzgiebligen Dach, in das die Zeit keinen Einlass erhielt, es war das Zimmer des Staatsanwalts. Die Vergangenheit war dort anwesend, nicht wie ein Geruch in einem alten Möbel, sondern gleichsam versteinert, war selbst wie ein Gegenstand vorhanden, und es verwunderte, dass man dort überhaupt atmen konnte. Dieses Zimmer war das eigentliche Museum, das Zentrum des Hauses, um das herum, man wusste es, sobald man die knarrende Tür geöffnet hatte, die gesamte Kunst, die ganze Werktätigkeit dieses Anwesens sich anordnete.
Ein Arbeitszimmer unter dem Dach mit einem staubigen Strom Sonnenlicht, das hereinfloss durch ein schräges Fenster, darin eingeschlossen das Panorama der Wälder in rostigen Herbstfarben, tannenblaue Hügel. Das kleine quadratische Zimmer, gesäumt von Bücherregalen. Ein vorsintflutlicher Computerbildschirm stand blind auf einem alten Schreibtisch. Aufgeschlagene Akten, ein Füllfederhalter, ein Kalender, 34. Woche,August 1988, Termine darin, manche waren unterstrichen, eine Flasche Mineralwasser, halb gefüllt, ein leeres Glas. Über der Lehne des rückenergonomischen Drehstuhls hing eine Strickjacke, am Boden lag ein Computerausdruck, eine wissenschaftliche Arbeit offensichtlich, einzelne lose Blätter waren über die Dielen verstreut und Notenhefte, Bachfugen, Chopin, Schubert. Es war dies ein Zimmer, das eben verlassen worden war, nur kurz, auf einen Sprung, weil sich der Staatsanwalt einen Tee macht, weil er ein Telefonat führt, die berühmten Zigaretten holt, weil ihm der Tod dazwischengekommen ist wie ein Sonnenuntergang mitten am Nachmittag.
Tom, als er mit Marc und Betty zusammen in diesem Zimmer stand, bewegte sich kaum, er versuchte, schwerelos zu sein, aber bei der leisesten Gewichtsverlagerung, beim Einatmen schon, knarrten die Holzdielen. Auf dem Schreibtisch des Staatsanwalts stand ein gerahmtes Foto von Marc. Marc Baldur, als er ein Kind war, schon damals mit langen Haaren, aber mit geradem Pony, hellblond, fast weiß sind diese Haare, die bis auf die Schultern fallen, etwa fünfjährig sitzt er am Flügel seines Vaters, in die Kamera grinsend, die Beine baumeln vom Klavierschemel herab, erreichen keineswegs den Boden, stecken in einer roten Siebziger-Jahre-Latzhose, wie überhaupt alles in Siebziger-Jahre-Farben schwimmt auf diesem Foto, gelbstichige Kindheit.
»So hat er mich gesehen, bis zuletzt«, sagte Marc. Betty hatte den Arm um ihn gelegt.
»An welchem Tag ist er gestorben?«, fragte Tom und starrte auf den Kalender.
»26. August.« Für dieses Datum waren in
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