Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
roter Schrift ein Gerichtstermin und ein Zahnarztbesuch vermerkt, außerdemdie Geburtstagsfeier eines Freundes, kein Tod. Auch nichts von Aufbahrung, Aussegnung, Beerdigung an den folgenden Tagen, sondern Amtstermine, ein Konzert im Münchner Gasteig, eine Chorprobe, ein weiterer Geburtstag mit Feier, »Freitag 20 Uhr Geb. bei Friedhelm«. Der eigene Tod kommt in den Terminkalendern nicht vor.
»Wusste er es nicht? Ich meine, war es nicht abzusehen?«, fragte Tom.
Marc, der seinen Blick von den Hügeln im Fenster zurückholte, hob erstaunt die Brauen, schüttelte den Kopf, dann schien ihm etwas einzufallen, er warf wieder den Kopf, diesmal, um eine Haarsträhne loszuwerden. »Nein. Es, nein. Es kam doch unerwartet.« Dann breitete sich ein plötzliches Lächeln über sein Gesicht, und jetzt, im Zug sitzend, meint Holler zu sehen, was er damals nicht gesehen hatte, Marcs lächelnden Blick in einen verschlossenen Raum, ins Dunkle jenseits der Berge im Dachfenster, hinter deren Gratlinie eben die Sonne hinabstürzte.
In der Abenddämmerung stiegen sie auf den Hügel hinter der Mühle. Betty war bei Lisa geblieben, um in der Küche zu helfen, sagte sie, aber Tom hatte den Eindruck, dass sie nicht mit hinauf wollte, dass die Jungs allein sein sollten dort oben, wo einmal am Waldrand Marcs Baumhaus gewesen war, von dem jetzt nur noch ein paar halb herabhängende Latten übrig waren und ein Holzschild mit verblichener Schrift: »Marcs Haus.«
»Es kam mir so wahnsinnig groß vor.« Marc lachte, als er das Schild betrachtete, das schief und verwittert an einem Nagel hing.
Der Wald entfärbte sich langsam, stand schwarz. Über dem Tal hing die blaue Stunde.
»Ich war lange nicht mehr hier oben«, sagte er. »Er hat es für mich gebaut, zu meinem sechsten Geburtstag. Manchmal habe ich ihn eingeladen, eine Einladungskarte auf seinen Schreibtisch gelegt, dann habe ich für uns gekocht, meistens gab es Blätter und Zweige, manchmal Gummibärchen, wir haben hier oben gesessen, und er hat mir Geschichten erzählt, aus seiner Kindheit in Ostpreußen.« Marc lachte wieder. »Ich weiß immer noch nicht, ob sie wahr sind.« Sie setzten sich ins Gras, lehnten mit dem Rücken am dicken Stamm der Eiche, blickten ins Tal, das langsam in Dunkelheit versank, erste Lichter, vom benachbarten Bauernhaus das flatternde Weiß eines Fernsehers.
Marc atmete tief ein. »Sie spinnt ein bisschen, nicht?«, sagte er unvermittelt.
»Wer?«
»Meine Mutter«, Marc riss ein paar Grashalme aus.
»Warum? Wegen des Zimmers?«
»Für sie ist er nicht tot«, sagte Marc.
»Was heißt das? Denkt sie … er lebt noch?« Tom wusste nicht, wie der Sachverhalt des Verrücktseins möglichst milde zu umschreiben wäre.
»Nein«, Marc schüttelte den Kopf, »nein, nicht so. Sie weiß natürlich, dass er tot ist, aber trotzdem lebt er für sie. Sie würde nie wieder heiraten, er ist der Einzige.« Marc zuckte mit den Schultern. »Es ist wie ein heiteres Warten auf ihn. Als käme er gleich.« Marc lächelte, schien mit diesem Lächeln zu denken. »Der ewige Augenblick des Wartens auf einen, der gleich zur Tür reinkommt. Und deswegen ist sie auch nicht unglücklich oder so, er ist zwar weg, aber grade deshalb ist er ja auch da. Keine Ahnung.« Er lachte jetzt. »Manchmal denke ich, es ist besser,dass er gestorben ist. Würde er noch leben, wären sie vielleicht schon geschieden, wie die anderen auch, aber so bleibt er der Einzige für sie.«
Tom dachte an seine einzige Anne Hermanns, die aber immer undeutlicher wurde in seinem Kopf, wie ein Nebel, der sich auflöst. Zuerst verschwindet der Schmerz, dann verschwindet die Sehnsucht, dann ist da noch ein bisschen Sehnsucht nach der Sehnsucht, dann verschwindet auch das, und was bleibt, ist: blauer Himmel, oder Nichts, Indifferenz. »So ist das mit der Liebe«, sagte Tom. Er hätte es nie für möglich gehalten.
»Scheißzeit«, sagte Marc. »Sie ist gegen die Liebe, sie ist gegen alles.«
»Genau«, sagte Tom, »schaffen wir sie ab!«
»Genau!«
Der Schrei einer Krähe flog steil über den Wald, etwas Abendwind, der raschelnd durch die Äste strich. Fallendes Laub. Dies war die Stunde der Geräusche. Sie nahmen plastische Formen an, rollten wie Kugeln aus der Stille. Das Knacken eines Astes hinter ihnen, Rascheln kleiner Füße im Laub.
»Manchmal denke ich«, sagte Marc mit Grashalm im Mund, »ich bin genau wie sie. Eigentlich dachte ich immer, ich bin wie mein Vater, aber ich bin wie sie. Ich würde am
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