Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
liebsten alles festhalten, immer.« Er kaute am Grashalm. »Ich hätte am liebsten, dass es so bleibt, wie es ist. Holler, Morgenthal, Baldur. Wir hier unter der alten Eiche. Die Mühle in der Dämmerung, die Buschberger-Nachbarn, die fernglotzen, meine Mutter und Betty dort unten, wie sie auf uns warten, das Licht genau so, wie es jetzt ist, nicht Tag, nicht Nacht.«
»Vielleicht hättest du Fotograf werden sollen.« Aber sofort schüttelte Tom den Kopf, und Marc sagte: »Fotos sind dasSchlimmste. Sie beweisen nur, dass nichts mehr ist, wie es einmal war.«
»Ich weiß«, sagte Tom.
Marc atmete tief, wie um den Geruch der Luft in sich zu speichern, denn es roch nach Kindheit hier oben. »Deswegen hätte ich am liebsten auch keinen Plattenvertrag oder so was.«
»Was würde das ändern?«
»Keine Ahnung. Ich glaube, es ist gut, wie es ist, weil wir damit nichts wollen. Oder weil wir alle das Gleiche wollen, wir wollen Musik machen und zusammen rumfahren. Das ist das Beste. Ich hätte einfach gern, dass es immer so bleibt, Holler, Morgenthal, Zadera, Baldur. Fahren zusammen rum und machen Musik. Aber es kann wahrscheinlich nicht so bleiben.«
»Warum nicht?«
»Ja, warum nicht?« Marc nahm einen Tannenzapfen, drehte ihn in der Hand, als wollte er ihn wiegen. »Meinst du, es könnte so weitergehen? Auch wenn wir mit dem Studium fertig sind, wenn wir Geld verdienen müssen?«
»Das müssen wir doch jetzt auch.«
»Nein, aber richtig, wenn wir alt werden und berühmt werden müssen oder eine Rentenversicherung haben oder Familie gründen und so weiter. Meinst du, es kann trotzdem so bleiben, wie es ist?«
»Klar. Ich will weder alt werden noch berühmt noch Familie.«
Marc lachte. »So was hab ich früher oft gekocht«, sagte er, zeigte auf den Tannenzapfen. »Es wird nicht so bleiben«, sagte er plötzlich.
»Warum nicht?«
Stille. Ein Krähenruf. Ein im Geäst aufflatternder Vogel. Dann wieder Stille.
»Weil es schon dunkel ist und wir Hunger haben und was essen müssen und die Baumhaus-Küche leider seit Jahren geschlossen ist.«
Langsam stiegen sie im Finstern den Hügel hinab, sie gingen Arm in Arm, weil Marc den Weg kannte, die Äste und Steinstufen, die den Pfad kreuzten, bis ins Tal.
Dort saßen in der Mühle, beim knisternden Herdfeuer, Betty Morgenthal und Lisa Baldur am alten großen Eichentisch über ein Fotoalbum gebeugt, betrachteten noch mehr verwaschene Siebziger-Jahre-Fotos, noch mehr verlorene Zeit in gelbstichigen Farben, aber sie lachten über unmögliche Frisuren, sie lachten über Schlaghosen, über Zahnlücken hinter Schultüten, rote Miniröcke und Stirnbänder im Haar. Sie lachten über den Staatsanwalt, der nicht aussah wie ein Staatsanwalt, langhaarig, Zigarette im Mundwinkel, im Feinrippunterhemd am Flügel sitzend, dann unter einem Baum mit Gitarre, während er offenbar sang und aussah wie Marc. Wären da nicht diese gelbmilchigen Farben gewesen, es wäre Marcs Gesicht.
Trotz der Fotos und der verlorenen Zeit wurden es glückliche Tage in der Mühle. Baldur, Morgenthal, Holler strichen die Dachrinne, sie strichen die Außenwände eines Schuppens, strichen die Scheune, ernteten Äpfel, rechten Laub. Sie machten lange Wanderungen, kehrten abends mit müden Beinen zurück, tranken Wein auf der Veranda, Lisa kochte. Tagsüber meißelte und fräste sie an einer Hasenplastik für den Marktplatz einer oberfränkischen Gemeinde, spielende, putzige Häschen, die in Forchheim oder Lichtenfels oder Marktredwitz bis in alle Ewigkeit in der Wasserfontäne eines Brunnens sitzen sollten. Abends jedoch, mit erhitzten Wangen, redeten sie über Kunst, über Musik, einmal stritten sie, weil Marc wieder mit seiner Interesselosigkeitanfing, und damit, dass er keinen Plattenvertrag wolle, dass er nichts verdienen wolle mit der Musik. Er jobbe lieber und gebe Klavierunterricht oder putze Treppen. Aber natürlich hatte er gut reden, der Stipendienvernichter, über die große Unmittelbarkeit von Kaufhausjazz einerseits, andererseits darüber, dass er die Musik nicht verhökern wolle wie ein paar Sportsocken, und wenn er schon wieder damit anfange, so Betty, dann seien auch die Marktplatz-Brunnen-Häschen von Lisa unmittelbarer als ihre Schrottfiguren. Einmal rede er so, sagte sie, einmal so, er wisse auch offensichtlich nicht, was er eigentlich wolle. Aber Tom, der geschwiegen und seinen Wein getrunken hatte, konnte sehr gut verstehen, dass man nicht wusste, was man wollte. Wie soll man es auch
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