Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
sie sich küssten, sich Popcornstücke gegenseitig mit der Zunge in den Mund schoben, sie fuhren mit Marc, mit Betty an den See, wo die beiden Frauen nebeneinanderlagen und plauderten, während er mitMarc im Wald spazieren ging. Für den Schubert hatte er kaum mehr Zeit, er musste Jazzstücke üben, nicht Schubert, auch nicht Schumann, und Betty verstand das, weshalb sie sowohl den Schubert als auch den Schumann liegen ließen. Er übte Improvisieren. Wenn er nicht Klavier spielte oder bei Nicki war, saß er mit Marc im Proberaum, da sie sich vorgenommen hatten, aus dem gesammelten Live-Material ihrer Tour eine Platte zu produzieren. Betty sah er nur zwischen Tür und Angel. Kam sie zum Frühstücken in die Küche, war er schon fertig, schloss sie die Haustür auf, war er gerade auf dem Sprung. Hatte sie für alle gekocht, konnte er an diesem Abend nichts essen. Er ging ihr aus dem Weg, was den Effekt hatte, dass sie endgültig in seinem Kopf einzog, sich dort immer mehr ausbreitete, sich räkelte auf einem riesigroten Sofa in seinem armen Kopf, vollkommen nackt.
Marc hatte inzwischen die Rohfassung seines Orchesterwerks fertiggestellt, seine Abschlusskomposition, ein monumentales einsätziges Werk, das die Töne in ein Standbild presste. Es war ein radikaler Entwurf, ein Gemälde aus Musik, dem Versuch entsprungen, den einzelnen Stimmführungen die Linearität zu nehmen, der Musik ihr Element zu entziehen: nämlich die Zeit. Einzig die Klangfarbe änderte sich, von einem dunklen Hörnergrollen hin zum Sonnenglitzern der Trompeten, zum gleißenden Streicherflimmern. Eine ganze Nacht lang saßen Tom und Marc über die Partitur gebeugt im Proberaum und vergegenwärtigten sich den geronnenen Klang.
»Nach zwei Jahren weiß man Bescheid«, sagte Marc, nachdem sie minutenlang in die Dämmerung hinausgesehen hatten, »denke ich.« Sein Blick war von Zigarettenrauch verschleiert.
»Worüber weiß man Bescheid?«
»Über die Liebe«, sagte Marc.
Tom, der keine Lust hatte, ausgerechnet mit Marc über die Liebe zu reden, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und schwieg.
»Das erste Jahr vergeht, und man ist verliebt«, fuhr Marc fort. »Das ist klar. Das zweite Jahr vergeht, und man ist nicht mehr so verliebt, sondern man ist hauptsächlich damit beschäftigt, darüber erschrocken zu sein, dass man nicht mehr so verliebt ist. Aber am Ende des zweiten Jahres, wenn man sich an den Schreck sozusagen gewöhnt hat, weiß man, ob es weitergeht oder ob es nicht weitergeht.«
»Und bei euch?«, fragte Tom brüchig, aus dem Fenster sehend, also beiläufig.
»Geht weiter«, sagte Marc, er lächelte.
»Schön«, sagte Tom.
Nicki kam ihm zuvor, indem sie die Sache beendete. Sie sagte, »die Sache«, was ihr vermutlich euphemistisch vorkam, sie sagte bewusst nicht »die Liebe« oder »unsere Beziehung« oder »diese ganze Scheiße«, sondern sie sagte, dass sie glaube, dass es besser wäre, »wenn wir die Sache beenden«. Habe sie so das Gefühl. Er nickte nur, sagte, dass er das auch glaube, fügte nach einem Zögern hinzu, dass man ja befreundet bleiben könne, er wollte weiter ausholen mit seinem Freundschaftsdiskurs, ließ es aber bleiben, als er Nickis Blick bemerkte, der ihm eigenartig starr vorkam. Draußen war Herbst, also passend, rostige, leuchtende Blätterspiralen wirbelten im Wind.
Wochenlang fühlte er sich absolut frei, auch befreit von Betty, er brauchte niemanden, dessen war er sich sicher, außer Marc, und nichts brauchte er weniger als eine Liebesalltäglichkeit, aufdie es hinauslaufen würde, auf die nämlich alle sogenannte Liebe früher oder später hinauslief, auf Ikeadiskussionen, dieses oder jenes Billy-Regal, diese oder jene Bettgröße, dazu auf Fußmassagen am offenen Kamin im Ikeasofa sitzend, auf Urlaube in Bio-Bauernhöfen, auf kleinkarierte Diskussionen um Geld oder Zahnpastatuben, um Kinder, um Steuerschlupflöcher, Autoreparaturen. Das sagte er sich. Das brauchte er nicht. Er hatte die Musik, um die Langeweile zu vertreiben, er hatte Marc. Freundschaft, dachte er, und er äußerte es einmal Marc gegenüber, ganz im allgemeinen, philosophischen Sinn, hält länger frisch als die Liebe. Freundschaft hat kein Verfallsdatum, muss nicht mit irgendwelchen Taschenspielertricks am Leben gehalten werden, Freundschaft stirbt nicht in der Zeit, sondern, im Gegenteil, sie wächst noch darin. So Tom. Plötzlich, als er, etwas beschämt, auf seine Knie hinabsah, wurde er von Marc umarmt, ohne zu wissen,
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