Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
was los war.
Dann wieder, grundlos, erschien ihm Betty Morgenthal unerhört schön und anmutig. Wie sie am Fenster stand, gedankenverloren, wie sie in einem Kochtopf rührte, wie sie, telefonierend, den Kopf neigte, während er von hinten ihren Nacken betrachtete.
Und ihre Stimme, die er im Winter wieder öfter hören musste, weil das Münchner Label auf Veröffentlichung drängte. Ihre Stimme, gegen die er sich plötzlich nicht mehr wehren konnte, samtig, vielfarbig, gefühlvoll, dass ihm fast schlecht wurde und er sich mehrere Male erheben musste, um das Fenster aufzureißen, Wind einzulassen, dunklen Winter, schmutzige Feuchte, und sich zu vergewissern, wo er sich eigentlich befand: Berlin und nicht Italien und nicht Himmel. Wieder ging er ihr aus dem Weg, vermied es, sie anzusehen, wenn es nicht unbedingtsein musste, ignorierte sie, was ihm einiges an Vorstellungskraft abverlangte, ein Stückchen Nichts aus Betty Morgenthal zu machen.
DER VOLLIDIOT
Zwischen Weihnachten und Silvester gaben sie ein Konzert in einem Club in Friedrichshain, einen sogenannten Showcase, organisiert vom ambitionierten Münchner Independent-Label, zu dem auch der rosenwangige Münchner Labelchef persönlich anreiste. Grundsätzlich war er begeistert, hatte aber daneben einige kaum als solche wahrnehmbare Kritikpunkte. Den Zuhörer immer mitbedenken war die Quintessenz, dem Zuhörer nicht allzu viel abverlangen, die musikalische Kost weniger sperrig gestalten, den Musikbrei besser durchköcheln, damit er niemandem im Hals stecken bleibt, ruhig die Harmonie zulassen, das Leben kann so schön sein, die Welt ist schön, warum immer das Unharmonische, das Hässliche sehen, den Musikbrei durchköcheln und auch ein wenig Süßstoff hineintun, sie können doch so schön spielen, warum das immer sofort kaputtmachen, warum das Schöne immer sofort in den Lärmfleischwolf hineindrehen? Warum nicht mal die Schönheit einer Melodielinie zulassen , warum nicht mal einen Swing-Groove durch spielen, warum nicht mal sagen: »Hey, okay, das ist Barjazz, aber ich find’s geil??« Er lächelte, ließ eine Pause, lächelte dann weiter und redete noch ein halbes Stündchen, ohne je das Wort »Verkaufen« zu verwenden. Er trank wieder nur Wasser, dazwischen ein Bitterlemon. Marc, der lange geschwiegen hatte, mit erhobenen Augenbrauen durch den Münchner Labelchef hindurchsehend wie durch Pergamentpapier, sagte, als sich derMünchner Labelchef gerade verabschieden wollte, plötzlich: »Nein!«
Der Labelchef hörte nicht recht, lächelte deshalb mit Fragezeichen. Er konnte alles mit verschiedenen Nuancen eines einzigen Lächelns ausdrücken, Freude, Unwillen, Begeisterung, alles. Jetzt ein fragendes Lächeln.
»Nein«, wiederholte Marc.
Der Labelchef nahm die Brille ab und putzte sie mit einem Stofftaschentuch.
Tom sah, wie Betty ihrem Marc mit dem Knie ins Bein stach. Dabei lächelte auch sie. Der Labelchef und Betty in einem einzigen großen Lächeln, das von seinem Ohr bis zu ihrem reichte, und Tom ertappte sich, wie er selbst lächelte, auch Ulli lächelte, nur Marc nicht. Aber immerhin schwieg er fortan, mit erhobenen Augenbrauen, nach wie vor durch den Labelchef hindurchsehend, und Ulli war es, der die Pause beendete, indem er irgendeinen österreichischen Scherz machte, wodurch der Labelchef dazu angehalten werden mochte, Marcs Renitenz auf das Konto exzentrischer Genialität zu verbuchen.
Man sei ja nicht mit denen verheiratet, stellte Tom später fest, als er neben Marc am Tresen lehnte, die Beine verkreuzt, und auf die Tanzfläche sah. »Das ist ein Labelvertrag, keine Hochzeit«, wiederholte er.
»Wenn man einmal damit anfängt«, sagte Marc.
»Du magst doch Barjazz, wo ist das Problem?«
»Ich mag aber Barjazz nur, wenn ich ihn mag, nicht wenn irgendein Publikum ihn mag.«
Betty, die offensichtlich genug hatte von Barjazz oder nicht, von Marc, von den problematischen Gesichtern, ging zur Tanzfläche, stand zunächst unschlüssig am Rand, entdeckte dannDiedrich, den schon immer leidenschaftlichen Tänzer, der mit hüpfenden Schritten und Locken auf sie zukam. Und Marc, der neben Tom an der Bar lehnte, sah über das gesamte Geschehen hinweg. Ihm, der weiterhin alles den Labelchef Betreffende erwog, entging komplett, dass sich seine Betty mit Diedrich blendend amüsierte. Ihm fiel keineswegs auf, wie die runden Hände des Saxofonisten immer tiefer an ihrem Rücken hinabwanderten, ihm erschien es nicht bedenklich, wie sie enger tanzten, wie
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